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BB 2018, I
Voßkühler 

Alles bleibt anders – 125 Jahre Deutscher Arbeitsgerichtsverband

Abbildung 1

Das Jahr 1893 war in verschiedener Hinsicht richtungsweisend: Neuseeland führte als erster Staat der Neuzeit das allgemeine Frauenwahlrecht ein. Der deutsche Ingenieur Rudolf Diesel meldete die grundlegenden Patente für den nach ihm benannten Dieselmotor an. Und in Mainz wurde am 11. Juni 1893 der Verband Deutscher Gewerbegerichte gegründet. Nachdem im Deutschen Reich immer mehr paritätisch besetzte Gewerbegerichte ihre Arbeit aufgenommen hatten, hatten die beteiligten Kreise den Wunsch, sich intensiver mit dem von diesen Gerichten angewendeten Recht zu beschäftigen.

Seitdem hat sich viel geändert. Streitigkeiten zwischen abhängig Beschäftigten und ihren Dienstherren werden schon seit 1926 nicht mehr vor Gewerbe- oder Kaufmannsgerichten, sondern vor den Arbeitsgerichten verhandelt. Das Bedürfnis aber, sich über das Recht auszutauschen, das bei diesen Streitigkeiten zur Anwendung kommt, ist ungebrochen. Und so gibt es den 1893 gegründeten Gerichtsverband nach wie vor. Nachdem er sich während der Zeit des Nationalsozialismus selbst aufgelöst hatte, um der Gleichschaltung zu entgehen, nahm er am 15. Dezember 1949 in Köln als Deutscher Arbeitsgerichtsverband – DArbGV – seine Tätigkeit wieder auf. Heute hat der DArbGV etwa 3900 Mitglieder aus der Arbeitsgerichtsbarkeit, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, der Rechtsanwaltschaft, der Arbeitsrechtswissenschaft und den an der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung beteiligten Behörden. Der DArbGV veranstaltet jährlich 20 bis 30 Ortstagungen mit einem regionalen Einzugsbereich sowie zwei Landestagungen mit einer bundesweiten Ausrichtung. Diese Veranstaltungen informieren die Teilnehmer über aktuelle Themen – vor allem aber bieten sie die Möglichkeit zu Kontakt und Austausch. Sie sind grundlegend für den Zusammenhalt der “Arbeitsrechtsfamilie”, in der gute persönliche Kontakte über alle Interessengegensätze hinweg sachgerechte Konfliktlösungen befördern.

Um das 125-jährige Bestehen des DArbGV gebührend zu feiern, fand am 10. und 11. Oktober 2018 in Köln ein festlicher Jubiläumskongress statt: 430 engagierte Teilnehmer und 50 Mitwirkende trugen vor, hörten zu, diskutierten und feierten. Sie machten deutlich, dass der Verband mit seiner langen Tradition eine sehr lebendige Organisation ist, deren Interesse auf die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft gerichtet ist.

Den Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft schlug auch der Vizepräsident des DArbGV Herr Prof. Dr. Ulrich Preis mit seinem Festvortrag. Er schilderte, wie sich der Umgang mit fremdnütziger Arbeit im Laufe der Menschheitsgeschichte gewandelt hat. Die Schutzgesetzgebung für abhängig Beschäftigte sei im 19. Jahrhundert nicht vom Arbeits-, sondern vom Sozialrecht ausgegangen. Erst später sei erkannt worden, dass individuelle Vertragsfreiheit bei abhängiger Beschäftigung Schranken brauche. Für die zukünftige digitale Arbeitswelt erwarte er, dass die Konflikte zwischen Arbeitgebern und Beschäftigen im Kern gleich blieben und durch eine Weiterentwicklung bereits bestehender Instrumente des Arbeits- und Sozialrechts gelöst werden könnten.

Im Ergebnis optimistisch in die Zukunft schauten auch Herr Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen von der Sozialforschungsstelle der Technischen Universität Dortmund, der Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft Herr Dr. Hans-Peter Klös und Herr Prof. Raimund Waltermann von der Universität Bonn: Mit ihren Impulsreferaten beantworteten sie die ihnen als Titel vorgegebene Frage “Digital statt analog: Arbeitsrecht ade?” eindeutig mit “nein”. Klös sah aus ökonomischer Sicht zwar erhebliche Auswirkungen der Digitalisierung auf das Arbeitsleben: Es werde immer mobiler und autonomer gearbeitet, der Bedarf an “digital skills” steige und verlange erhebliche Weiterbildungsaktivitäten der Unternehmen. Ein negativer Beschäftigungseffekt sei jedoch nicht zwingend zu erwarten.

Diese Prognose teilte Hirsch-Kreinsen: Aus dem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel beschrieb er einen durch die Digitalisierung ausgelösten Wandel, der die abhängige Arbeit verändere, sie aber nicht abschaffe. An die Stelle hierarchischer Unternehmensorganisationen könnten zukünftig dezentrale vernetzte Prozesse treten. Dies würde bei einem beinahe gleichbleibenden Bedarf an Beschäftigen insgesamt voraussichtlich eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes (lousy and lovely jobs) auslösen, die mit einer Erosion von Jobs auf der mittleren Qualifikationsebene verbunden sei.

Waltermann sah aus rechtswissenschaftlicher Sicht Handlungsbedarf vorrangig auf dem Gebiet des Sozialrechts: Wenn es hier gelänge, neue, atypische Formen der Beschäftigung einzubinden, verlöre die Abgrenzung zwischen “Normalarbeitsverhältnissen” und andere Beschäftigungsformen ihre sozialpolitische Brisanz.

Mit diesen Ausführungen schloss sich für die Teilnehmer des Kongresses der Kreis zum Eröffnungsvortrag: Es leuchtet ein, dass der Schlüssel für eine effektive Schutzgesetzgebung in der digitalen Revolution ebenso wie in der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts im Sozialrecht liegt. Unter den geänderten Bedingungen müssen die Risiken Krankheit, Beschäftigungslosigkeit und Alter für die Beschäftigten abgesichert bleiben. Der Titel, unter dem der Kongress stand, ist damit ebenso eingängig wie richtig: Alles bleibt anders.

Birgit Voßkühler ist Vizepräsidentin des Landesarbeitsgerichts Hamburg und Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Zusammen mit Herr Prof. Matthias Jacobs hat sie die Geschäftsführung des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes inne.

 
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