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BB 2017, I
Szesny 

Der börsennotierte Kartellant: Reden oder Schweigen?

Abbildung 1

Die Entdeckung von Abgasmesswertmanipulationen eines deutschen Automobilherstellers durch die US-amerikanische Umweltbehörde zieht in hiesigen Gefilden bis heute seine Kreise wie ein in eine Wasserfläche eintretender Tropfen: Zunächst betroffen erschien nur ein Hersteller, später stellte sich heraus: Der Delinquent befindet sich in illustrer Gesellschaft. Und es blieb nicht beim Ursprungsvorwurf: Ermittelt wurde zunächst “nur” wegen Betrugs, später erstreckte sich der Verdacht auch auf Marktmanipulation. Durch das Verschweigen derartiger Manipulationen sei der Kurs “geschont”, oder besser: geschönt worden. Und das war nicht die letzte Entwicklung:

Jüngst wurde bekannt, dass Autohersteller nicht nur Abgaswerte manipuliert, sondern sich in Bezug auf technische Details abgesprochen haben sollen. Solche Einschränkungen des Wettbewerbs sind für die Kartellanten prima facie lukrativ, doch im Falle der Entdeckung drohen Bußgelder in Millionenhöhe. Um Kartellen auf die Spur zu kommen, bieten die deutschen und europäischen Behörden demjenigen, der “sein” Kartell verpetzt, einen Bußgeldnachlass an. Dem ersten winkt Straffreiheit, nachfolgende Kronzeugen erhalten abgestufte Milderungen.

Doch in den Genuss dieses Bonus’ kommen nur diejenigen Kartellanten, die Stillschweigen über ihren Kronzeugenantrag bewahren. Das verlangen die Kartellbehörden, denn so können sie das Kartell weiter beobachten und Beweise gegen die Kartellanten sammeln. Darüber, wer das “Windhundrennen” im Autokartell gewonnen hat, bestehen deshalb widersprüchliche Informationen. Doch eines ist sicher: Den Kronzeugen droht Ungemach der BaFin. Wiederum heißt die Gefahr: Marktmanipulation.

Denn mit dem Bonusantrag des börsennotierten Kronzeugen ist der erste Schritt zur Ermittlung und Sanktionierung der Kartellanten getan: Je nach Zeitpunkt und Inhalt seines Geständnisses hätte dessen Bekanntwerden den Börsenkurs des Kronzeugen beeinflusst haben können. Hat es aber nicht, denn es blieb ja geheim. Doch börsenkursrelevante Information muss der Emittent “ad hoc”, also unverzüglich, veröffentlichen. Und wer diese Mitteilung nicht macht, begeht eine strafbare Marktmanipulation. Seit Inkrafttreten des 1. Finanzmarktnovellierungsgesetzes (BGBl. I 2016, 1514) gelten für einen solchen Verstoß schärfere Strafen als zuvor: Bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe für den Täter, besonders schwere Fälle werden sogar als Verbrechen mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Das betroffene Unternehmen muss damit rechnen, eine Geldbuße von bis zu 15 Mio. Euro oder – je nach dem, was mehr ist – bis zu 15 % seines Vorjahresumsatzes an den Staat zu zahlen (krit. dazu Eggers/Gehrmann/Szesny, WiJ 2016, 123 ff.; einen Überblick über das Sanktionenrecht findet sich bei Pölzig, NZG 2016, 492 ff., und Szesny DB 2016, 1420 ff.).

Die Frage an den Berater liegt auf der Hand: Soll das Unternehmen das Geheimhaltungsgebot der Kartellbehörde brechen oder seine Ad-hoc-Mitteilungspflicht verletzen? Die Frage ist neu: Die Praxis hat wieder einen weißen Fleck auf der Landkarte des Wirtschaftsstrafrechts identifiziert.

Einen Ausweg aus der Zwickmühle mag im WpHG zu finden sein: Ad-hoc-Mitteilungen können unter bestimmten Umständen aufgeschoben werden. Die EU-Marktmissbrauchsverordnung lässt dies zu, wenn eine unverzügliche Mitteilung berechtigte Interessen des Unternehmens beeinträchtigen würde. Dies dürfte zumeist zu bejahen sein, denn im Kronzeugenantrag liegt die Chance, durch Selbstanzeige und Stillschweigen einen möglichst hohen Bußgeldnachlass zu erlangen. Das ist zweifelsohne ein berechtigtes Interesse des Unternehmens. Kartellbußen erreichen schnell Millionenhöhe, und die Vorstände haben eine gesetzlich vorgeschriebene Schadensabwendungspflicht. Zulässig ist der Aufschub zudem nur dann, wenn durch ihn der Markt nicht in die Irre geführt wird. Schließlich muss der Emittent sicherstellen, dass die börsenkursrelevante Information geheim bleibt. Auch diese Kriterien dürften in der Regel erfüllt sein, denn um Irreführung des Marktes wird es dem Kronzeugen nicht gehen, und die Geheimhaltung seines Bonusantrags ist ja schon Voraussetzung für den von ihm angestrebten Bußgeldnachlass im Kartellverfahren. Wichtig ist: Der Aufschub ist (1) in jedem Fall sorgsam zu prüfen und (2) zu dokumentieren; (3) muss er rechtzeitig, nämlich im Zeitpunkt, in dem an sich die Ad-hoc-Mitteilung fällig wäre, beschlossen werden. All dies wird sich die BaFin im Nachhinein genauestens anschauen.

Verfängt der Ausweg über das Wertpapierrecht nicht, hilft das Strafrecht: Dieses sieht Straffreiheit für denjenigen vor, der eine Pflicht nur dann erfüllen kann, wenn er eine andere verletzt. Diese Konstruktion der “rechtfertigenden Pflichtenkollision” greift allerdings nur, wenn die kollidierenden Pflichten gleichwertig sind. Das liegt hier aber nicht auf der Hand: Ad-hoc-Mitteilungspflichten sind gesetzliche Pflichten, die Schweigepflicht im Kronzeugenprogramm entspringt hingegen nur einer Verwaltungsvorschrift. Sie steht in keinem Gesetz, sondern ist eine Leitlinie der Kartellbehörde über Strafrabatte für Kronzeugen. Praktisch und aus Sicht der Unternehmen wiegen das Schweigegebot der Kartellbehörden und Ad-hoc-Mitteilungspflicht jedoch zweifelsohne gleich schwer, denn im Falle der Verletzung drohen in beiden Fällen empfindlichste Sanktionen – ob sie nun auf einem Gesetz beruhen oder nicht. Nimmt man den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, demzufolge – hier vereinfacht formuliert – Strafe ist, was als Strafe wirkt, beim Wort, kommt man nicht umhin, die Schweigepflicht des Kartellanten mit seiner Ad-Hoc-Mitteilungspflicht auf dieselbe qualitative Stufe zu stellen. Die schnelle Information des Kapitalmarkts und der Aktionäre ist zweifellos wichtig, um Marktmissbrauch, vor allem Insiderhandel zu verhindern. Doch auch die schnelle Aufklärung von Kartelldelikten ist ein nicht minder belangreiches Ziel im Rechtssystem. Wichtig ist auch hier: Wer sich auf einander entgegenstehende Pflichten berufen will, muss die tatsächlichen Umstände rechtlich genauestens prüfen und dokumentieren. In einem Bußgeldverfahren – gleich, ob von Kartell- oder Finanzmarktaufsichtsbehörden – kann dies Millionen sparen.

Dr. André-M. Szesny, LL.M., ist Rechtsanwalt und Partner der Wirtschaftskanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek und Lehrbeauftragter für Wirtschaftsstrafrecht an der Hochschule Fresenius. Er ist als Strafverteidiger in Wirtschaftsstrafsachen tätig und berät Unternehmen und Einzelpersonen in Fragen der Compliance und des Unternehmensstrafrechts.

 
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