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BB 2019, I
Löwisch 

Die Zwangstarifierung der Pflegebranche

Abbildung 1

Am 29.11.2019 ist das Pflegelöhneverbesserungsgesetz vom 22.11.2019 (BGBl. I, 1756) in Kraft getreten. Nach der Begründung der Bundesregierung (BT-Drs. 19/13395) soll das Gesetz den Pflegeberuf attraktiver gestalten und die Arbeitsbedingungen in der Pflege spürbar verbessern. Das Gesetz verfolgt dieses Ziel auf zwei Wegen, nämlich erstens einer Änderung der seit 2009 in Gestalt der §§ 10 ff. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) bestehenden besonderen Bestimmungen für die Regelung der Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche (“Kommissionslösung”) und zweitens einer Erstreckung der Verordnungsermächtigung von § 7a AEntG auf die tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen in der Pflege (“Tarifvertragslösung”).

Die Änderungen der Kommissionslösung dienen im Wesentlichen einer Effektuierung des Verfahrens: Die für den Vorschlag von Arbeitsbedingungen zuständige Kommission wird zur ständigen Einrichtung. Sie ist schon beschlussfähig, wenn drei Viertel ihrer Mitglieder anwesend sind. Die aufschiebende Wirkung von Klagen gegen die Benennung von Kommissionsmitgliedern wird ausgeschlossen. An der Beschränkung auf Empfehlungen für Mindestentgeltsätze sowie für Urlaubsdauer, Urlaubsentgelt und zusätzliches Urlaubsgeld wird ebenso festgehalten wie an dem besonderen Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln auch der insgesamt 4 Vertreter der Dienstnehmerseite und Dienstgeberseite der kirchlichen Arbeitgeber.

Die Tarifvertragslösung geht über die Kommissionslösung weit hinaus: Sie erfasst nicht nur Mindestentgeltsätze und den Urlaub, sondern erstreckt sich auf alle vom AEntG nach dessen § 2 überhaupt erfasste Arbeitsbedingungen, also auch Höchstarbeitszeiten, Personalgestellung, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene, Schutzmaßnamen für Schwangere, Wöchnerinnen, Kinder und Jugendliche sowie die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und andere Diskriminierungsbestimmungen. Der Regelungsinhalt wird nicht unter Mitwirkung von Kommissionen der Pflegebranche empfohlen, sondern von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden tarifvertraglich vereinbart. Auch hat die Tarifvertragslösung Vorrang: Nach § 13 S. 1 AEntG gehen die Regelungen einer Verordnung nach § 7a den Regelungen einer Verordnung nach § 11 vor, soweit sich die Geltungsbereiche der Verordnungen überschneiden.

Der Einfluss der kirchlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist reduziert. Zwar können sie dem BMAS jeweils eine in ihrem Bereich für die Festlegung von Arbeitsbedingungen auf der Grundlage kirchlichen Rechts gebildete paritätisch besetzte Kommission benennen. Diese Kommissionen sind aber nur zum voraussichtlichen Tarifvertragsinhalt anzuhören. Den Erlass der Rechtsverordnung können sie nur mit qualifizierter Minderheit verhindern: Die Verordnung bedarf lediglich der Zustimmung von zwei dieser Kommissionen, in deren Bereichen insgesamt mindestens zwei Drittel aller in der Pflegebranche im Bereich von Religionsgesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer beschäftigt sind. Dass die Kommission einer der großen Kirchen sich mit Hilfe der Kommissionen anderer Religionsgesellschaften über die andere große Kirche hinwegsetzt, ist also nicht ausgeschlossen.

Mit dem durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV garantierten Selbstverwaltungsrecht der Kirchen ist die so ausgestaltete Tarifvertragslösung nicht vereinbar. Zwar müssen die Kirchen vom Staat selbst festgelegte Mindestarbeitsbedingungen hinnehmen, weil sie zu den für alle geltenden Gesetzen im Sinne von Art. 137 Abs. 2 S. 1 WRV gehören. Dass aber diese Mindestarbeitsbedingungen in Tarifverträgen festgelegt werden, die gegebenenfalls durch Arbeitskämpfe erzwungen werden, stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht dar. Dieser Eingriff ist schon nicht erforderlich, weil in Gestalt der Kommissionslösung ein das Selbstverwaltungsrecht schonenderer Weg zur Verfügung steht. Er ist aber auch unverhältnismäßig im engeren Sinne, weil er den Tarifvertragsparteien Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, die den Kern des Selbstverwaltungsrechts betreffen. Insbesondere geht es nicht an, dass Tarifvertragsparteien nach § 2 Nr. 7 AEntG Nichtdiskriminierungsbestimmungen erlassen können, die den Religionsvorbehalt des § 9 AGG aushebeln und die dann durch Rechtsverordnung umgesetzt werden.

Ganz unabhängig von der kirchenrechtlichen Problematik lässt sich fragen, ob dieser weitere Schritt zur Zwangstarifierung von Arbeitsbedingungen bestimmter Branchen wirklich sinnvoll ist. Die Arbeitnehmer dieser Branchen werden so der Notwendigkeit enthoben, sich selbst und gemeinsam um die wirkungsvolle Vertretung ihrer Interessen zu kümmern. Dass vermehrte Allgemeinverbindlichkeit nicht zu vermehrter Gewerkschaftsmitgliedschaft führt, ist inzwischen sozialpolitisches Allgemeingut. Warum sollten Pflegekräfte der AWO und anderer Träger der freien Wohlfahrtspflege auch einer zuständigen Gewerkschaft beitreten, wenn sie erwarten können, dass die von diesen ausgehandelten Arbeitsbedingungen qua Rechtsverordnung ohnehin auf sie erstreckt werden?

Vor allem aber führt Zwangstarifierung zur Inflexibilität. Das bereitet schon im Bereich der den gesetzlichen Mindestlohn überschreitenden Entgelte Schwierigkeiten. Sachgerechte Differenzierungen werden erschwert. In Fragen der Arbeitszeit und der Personalgestellung ist solche Inflexibilität gerade in der Pflegebranche kaum zu bewältigen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Of Counsel der Rechtsanwaltskanzlei KraussLaw in Lahr (Schwarzwald).

 
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