Politisch motivierte Anpassung des Übernahmeverfahrens für die IFRS – wollen Sie das wirklich?
Seit Juli 2002 haben wir in der Europäischen Union (EU) die IAS-Verordnung. Mit dieser Vorschrift wird geregelt, auf welche Weise die internationalen Rechnungslegungsstandards, die IFRS, Teil des europäischen Rechts werden. Das zu regeln ist erforderlich, weil die für die Normensetzung in der EU zuständigen Instanzen Kommission, Ministerrat und Parlament die ihnen zugewiesenen Befugnisse nicht einfach auf privatrechtliche Instanzen wie den IASB auslagern können. Im Rahmen des sog. Übernahmeverfahrens (endorsement) ist daher ein Prüfprozedere vorgeschrieben, das den Einklang der IFRS mit den Kernprinzipien des europäischen Bilanzrechts sicherstellen soll.
Derartige Übernahmeverfahren sind nichts Ungewöhnliches, sie bestehen in vielen Staaten, die sich auf die Anwendung der IFRS eingelassen haben. Allerdings ist der Umfang der zu durchlaufenden Prüfschritte merklich verschieden: Von einem “basst scho”-artigen Sehtest bis zu einer nobelpreisverdächtigen makroökonomischen Großtat ist so ziemlich alles dabei – “welches Schweinderl hätten's denn gern?” Europa hat sich für eine “wahre Prachtsau” entschieden, die “munter durch die Dörfer gejagt wird”. Aus dem Rechtstext ist das so nicht herauszulesen: “Die internationalen Rechnungslegungsstandards können nur übernommen werden, wenn sie 1. [einem den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens] nicht zuwiderlaufen sowie dem europäischen öffentlichen Interesse entsprechen und 2. den Kriterien der Verständlichkeit, Erheblichkeit, Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit genügen.” Die Entscheidung selbst ist dann binär: Das Produkt wird entweder wie besehen gekauft oder liegengelassen; eine Modifizierung oder Nachverhandlung ist nicht vorgesehen.
Der Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse sowie die genannten vier Einzelkriterien sind uns aus der europäischen Bilanzrichtlinie geläufig und in den IFRS vergleichbar definiert. Bleibt die Frage, was sich die Schreiber wohl beim “europäischen öffentlichen Interesse” gedacht haben. Die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG), welche die Kommission bei der Übernahme fachlich berät, hat diese Formulierung lange Zeit so ausgelegt, dass dem europäischen Gemeinwohl gedient sein müsse, wenn alle anderen Kriterien erfüllt und das Einblicksgebot gewahrt sind – quasi als zusammenfassende Schlussfolgerung.
Die sog. Maystadt-Reform von EFRAG im Jahr 2014 beendete diese Praxis. Fortan sollte die Verträglichkeitsprüfung mindestens eine Kosten-Nutzen-Abwägung und eine Feststellung umfassen, dass die zu übernehmende Regelung eine Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellt. Bei umfangreicheren Standards sind zudem der Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Europa sowie die Finanzstabilität, die Wettbewerbssituation, die Beschäftigungslage sowie das Angebots- und Nachfrageverhalten zu überprüfen, und es ist ein Vergleich mit den entsprechenden US-amerikanischen Regeln durchzuführen – als Mindestumfang, versteht sich, mehr geht immer. Allein die Prüfung bei EFRAG dauert so schnell 18 Monate, dazu kommt ein gleichlanger Zeitraum auf Ebene der europäischen Instanzen. Vielen nach IFRS bilanzierenden Unternehmen kommt da der Gedanke, die “Indossierungssau” müsse mal dringend ins Fitnessstudio und deutlich abspecken. Schließlich gehe es bei der Übernahme nicht um Gefahr für Leib und Leben, hochgefährliche Substanzen oder sicherheitsrelevante Technologien, sondern nur um Bilanzierungsstandards – eigentlich.
Im Kern geht es aber um eine viel grundlegendere Frage: Will Europa weiterhin eine weltweit akzeptierte und an der Transparenz des Unternehmensgeschehens ausgerichtete Abbildungsnorm haben oder nicht? Der umfangreiche Prüfkatalog mag Zweifel daran aufkommen lassen. Formal soll er eine Folgenabschätzung ermöglichen, so wie das bei jedem Gesetzgebungsverfahren gute Übung ist. Dagegen kann man kaum etwas einwenden. Mit jeder neuen Ausweitung des Katalogs stellt sich aber die Frage, ob das Ziel der Prüfung nicht vielmehr darin besteht, den Kandidaten “zu Tode zu prüfen”. Aktuell in Brüssel diskutierte Vorschläge, die Übernahmeprüfung um eine Beurteilung der Verträglichkeit der IFRS mit nachhaltiger Finanzierung zu ergänzen, haben denn auch mit einer Folgeabschätzung wenig zu tun. Hier werden die Bilanzierungsvorschriften an etwas gemessen, für das sie gar nicht geschaffen wurden.
Wenn die Kommission dann auch noch vorschlägt, sich Eingriffsrechte in bereits übernommene und noch zu übernehmende Regelungen einzuräumen, dann stellt dies schlicht die Aufkündigung eines unverändert breiten europäischen Konsenses dar, die IFRS als Rechnungslegungsgrundlage kapitalmarktorientierter Konzerne zu akzeptieren. Wer solche politisch motivierten Eingriffe in die IFRS verhindern will, sollte deutlich vernehmbar seine Stimme erheben. Möglichkeiten dazu bietet eine für den 30.11.2018 angekündigte Konferenz in Brüssel.
Prof. Dr. Andreas Barckow ist Präsident des Deutschen Rechnungslegungs Standards Committee e.V. (DRSC) und Vizepräsident des Boards der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG). Er vertritt das DRSC im Accounting Standards Advisory Forum des International Accounting Standards Board (IASB) und wurde unlängst in dessen Management Commentary Consultative Group berufen. Er ist ferner Mitglied in den Arbeitskreisen Externe Unternehmensrechnung, Integrated Reporting und Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit hat er eine Honorarprofessur an der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar inne. Der Beitrag stellt seine persönliche Meinung dar.