A. Das (vorsorgende) Lebensmittelrecht in der modernen Risikogesellschaft
Infolge der so genannten Lebensmittelskandale 1 zum Ende der 1990er und zu Anfang der 2000er Jahre sowie der anschließenden Kritik an der EU wegen ihres unzureichenden Umganges mit diesen Lebensmittelkrisen 2 erfuhr das europäische Lebensmittelrecht eine relevante Zäsur. 3 Stand vorher noch die Herstellung eines gemeinsamen Binnenmarktes im Mittelpunkt, 4 so erfolgte nunmehr eine Akzentverschiebung auf Seiten des unionalen Gesetzgebers hin zu einer klar sicherheitsrechtlichen Ausgestaltung, 5 die in den Erlass der sog. Lebensmittel-Basisverordnung 6 [VO (EG) 178/2002 7 ] mündete. Dieses Regelungswerk, welches seitdem „an der Spitze und im Zentrum“ 8 des europäischen Lebensmittelrechts steht, schuf ausweislich seiner Art. 1 Abs. 1, 2 und
Den Kern der BasisVO bilden Festsetzungen von allgemeinen Anforderungen an die Lebensmittel- 11 und Futtermittelsicherheit 12 , die ganzheitlich und umfassend vom Erzeuger bis zum Verbraucher („ From farm to fork “) reichen, 13 sowie die Einrichtung einer Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit 14 .
Berücksichtigt man den Umstand, dass Lebensmittel die Grundlage eines jedermanns Ernährung darstellen und im Falle von Lebensmittelskandalen somit eine Art „universelle Betroffenheit“ 15 besteht, erscheint dieser ganzheitliche Ansatz, der u.a. möglicherweise verlorengegangenes Vertrauen der Bevölkerung in die Lebensmittelsicherheit zurückzugewinnen versucht, 16 durchaus berechtigt.
Freilich darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen oder unterschätzt werden, dass ein solcher ganzheitlicher Ansatz auch oder vor allem auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Hinblick auf eine immer stärker ausgeprägte, sensibilisierte Wahrnehmung von Risiken 17 innerhalb der Verbraucherschaft zurückzuführen ist. Denn stand einerseits zu früheren Zeiten, in denen Nahrungsmittel nicht im Überfluss vorhanden und ein kostbares, überlebensnotwendiges Gut waren, die Frage nach der Lebensmittelsicherheit noch deutlich weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit von Verbrauchern, so hat die zwischenzeitlich quasi vollständige Befriedigung von materiellen (Grund-)Bedürfnissen – insbesondere aufgrund der hohen und breiten Verfügbarkeit von Lebensmitteln – zu einem völlig anderen Blickwinkel geführt. 18 Andererseits bzw. weiterhin fehlt dem Verbraucher in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft immer mehr die Kenntnis, wie Lebensmittel überhaupt erzeugt
Natürlich steht außer Zweifel, dass im Zuge neuer und dynamischer Entwicklungen bislang unbekannte, tatsächliche und vermeintliche Risiken – als unbeabsichtigte Nebenfolge – für Leben und Gesundheit entstehen können, 20 die sich aufgrund ihrer Ungewissheit und fehlender Erfahrungswerte bezüglich möglicher Kausalverläufe 21 den überkommenen behördlichen – insbesondere polizeirechtlichen – Kontrollmechanismen entziehen, 22 was infolgedessen nicht nur der Europäische Gesetzgeber mittels einer nicht unerheblichen Umbildung des Rechts (auch des Lebensmittelrechts) weg von einer reinen Gefahrenabwehr hin zur Vorsorge 23 zu bedienen versucht.
Wesentlich ist dementsprechend das in der BasisVO manifestierte System der Risikoanalyse 24 und die im europäischen Lebensmittelrecht erstmalige 25 Kodifizierung des Vorsorgeprinzips 26 , wonach nicht zugewartet werden soll, bis ein Schadenseintritt wahrscheinlich ist, 27 sodass das Lebensmittelrecht seither im rechtswissenschaftlichen Schrifttum beinahe einhellig als Risikoverwaltungsrecht bezeichnet wird. 28 Die Risikoanalyse stellt hierbei die zentrale
„einen Prozess aus den drei miteinander verbundenen Einzelschritten Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation“, 30
verweist inhaltlich mithin auf die in Art. 3 Nrn. 11 bis 13 BasisVO definierten Einzelschritte der Risikobewertung, also
„einen wissenschaftlich untermauerten Vorgang mit den vier Stufen Gefahridentifizierung, Gefahrenbeschreibung, Expositionsabschätzung und Risikobeschreibung“ 31 ,
des Risikomanagements, als
„den von der Risikobewertung unterschiedenen Prozess der Abwägung strategischer Alternativen in Konsultation mit den Beteiligten unter Berücksichtigung der Risikobewertung und anderer berücksichtigenswerter Faktoren und gegebenenfalls der Wahl geeigneter Präventions- und Kontrollmöglichkeiten“ 32 ,
sowie auf die Risikokommunikation, welche
„im Rahmen der Risikoanalyse den interaktiven Austausch von Informationen und Meinungen über Gefahren und Risiken, risikobezogene Faktoren und Risikowahrnehmung zwischen Risikobewertern, Risikomanagern, Verbrauchern, Lebensmittel- und Futtermittelunternehmen, Wissenschaftlern und anderen interessierten Kreisen einschließlich der Erläuterung von Ergebnissen der Risikobewertung und der Grundlage für Risikomanagemententscheidungen“ 33
forcieren und ermöglichen soll. 34
Obgleich Risikoanalysen zu einzelnen Stoffen in vielen Bereichen Verwendung finden, wird dieses System im europäischen Lebensmittelrecht nunmehr eigenständig definiert, um in effektiver Weise gezielte wie angemessene Maßnahmen des Gesundheitsschutzes veranlassen zu können. 35 Die begriffli
Besteht hingegen – so das in Art. 7 BasisVO kodifizierte Vorsorgeprinzip – nach einer
„Auswertung der verfügbaren Informationen die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen (…), wissenschaftlich [darüber] aber noch Unsicherheit (…), können vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zur Sicherstellung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus getroffen werden, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassende Risikobewertung vorliegen“ 38 .
Dementsprechend lassen sich auch bei wissenschaftlicher Unsicherheit in Bezug auf noch „junge Technologien“ 39 oder im Falle von bislang unauffälligen Lebensmitteln aufgrund neuer, aber noch nicht vollends ausgereifter wissenschaftlicher Erkenntnisse 40 vorsorgend bzw. vorbeugend Maßnahmen 41 ergreifen.
Substantielle Bedeutung kommt dabei den dahinterstehenden Definitionen der Begriffe Risiko und Gefahr aus Art. 3 BasisVO zu, da jene die tatbestandliche Grundlegung dieser vorgenannten Risikoanalyse bilden und nur ein diesbezüglich einheitliches Verständnis Widersprüchlichkeiten in der Gestaltung und Anwendung des Rechts auszuräumen vermag. 42
Risiko wird demnach als
„eine Funktion der Wahrscheinlichkeit einer die Gesundheit beeinträchtigenden Wirkung und der Schwere dieser Wirkung als Folge der Realisierung einer Gefahr“ 43
und Gefahr als
„ein biologisches, chemisches oder physikalisches Agens in einem Lebensmittel oder Futtermittel oder ei[n] Zustand eines Lebensmittels oder Futtermittels, der eine Gesundheitsbeeinträchtigung verursachen kann“ 44 Seite 7
definiert.
Die Begriffsbestimmung des Risikos in Art. 3 Nr. 9 BasisVO verknüpft hiernach zwei Komponenten, einerseits die Wahrscheinlichkeit einer die Gesundheit beeinträchtigenden Wirkung und andererseits die Schwere dieser Wirkung als Folge der Realisierung einer Gefahr durch den Begriff der Funktion, sodass ein Risiko in diesem Sinne also die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Gesundheitsgefahr in Relation zur Schwere dieser erwarteten Wirkung darstellt. 45
Ebenfalls zentral sind in diesem Zusammenhang die eingangs bereits erwähnten und nunmehr in Art. 14 BasisVO normierten Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit, denen sämtliche in der Europäischen Union in den Verkehr gebrachten Lebensmittel entsprechen müssen. Art. 14 BasisVO legt hierbei jedoch nicht nur die Beurteilungsvoraussetzungen fest, wonach Lebensmittel als sicher oder unsicher einzuordnen sind, sondern bildet überdies auch eine sog. Grundnorm der europäischen Lebensmittelsicherheit, auf welche die weiteren Teile der Verordnung zulaufen. 46
1 | 1 Vgl. hierzu Dominik Mayer, Gesundheitsschutz in der Europäischen Gemeinschaft am Beispiel von BSE, S. 1ff., 9ff.; Entscheidung der Kommission „über Schutzmaßnahmen hinsichtlich der Dioxinkontamination bestimmter“ Lebensmittel, ABl. EG 1999 L 310/62; Gundel, § 8 Lebensmittelrecht, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, S. 557, 580, Rn. 32; Krell/Görgen, |
2 | 2 Entsprechende Versäumnisse wurden durch einen vom Europäischen Parlament eingesetzten Untersuchungsausschuss festgehalten, siehe hierzu die Parlamentsentschließung v. 19.02.1997, ABl. EG 1997 C 85/61; Beckedorf, EuR 1997, 237, 237ff. |
3 | 3 Gundel, § 8 Lebensmittelrecht, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, S. 557, 580, Rn. 32; vgl. hierzu auch allgemein bzw. (noch) mit Blick auf das Weißbuch Brenner, |
4 | 4 In mehreren Phasen wurde zunächst der Versuch einer vertikalen Harmonisierung unternommen, bei der jeweils einzelne Lebensmittel einer einheitlichen Regelung unterzogen werden sollten, um sodann – ab ca. Mitte der 1980er Jahre – auf solche „produktbezogenen-sektoralen“ Regelungen zu verzichten bzw. stattdessen mittels des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung nationaler Produktstandards nach dem Herkunftslandprinzip zu verfahren, ausführlich m.w.N. siehe hierzu: Gundel, § 8 Lebensmittelrecht, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, S. 557, 578, Rn. 30f.; Thilo Ortgies, Rechtliches Risikomanagement im Lebensmittelrecht, S. 50f.; Schroeter, |
5 | 5 Knipschild, Lebensmittelsicherheit als Aufgabe des Veterinär- und Lebensmittelrechts, S. 123; Thilo Ortgies, Rechtliches Risikomanagement im Lebensmittelrecht, S. 51; vgl. auch Tschiersky-Schöneburg/Büttner, in: Frede, Handbuch für Lebensmittelchemiker, S. 95, 96. |
6 | 6 Im Folgenden: BasisVO. |
7 | 7 Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.01.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. EG 2002 L 31/1. |
8 | 8 So Weiß, Die rechtliche Gewährleistung der Produktsicherheit, S. 274. |
9 | 9 Schomburg, Rechtsrahmen funktioneller Lebensmittel, S. 89. |
10 | 10 Thilo Ortgies, Rechtliches Risikomanagement im Lebensmittelrecht, S. 51; Rabe, |
11 | 11 Art. 14 BasisVO. |
12 | 12 Art. 15 BasisVO. |
13 | 13 Müller, Die Bewältigung von Lebensmittelrisiken durch Risikokommunikation, S. 5; Meisterernst, Lebensmittelrecht, S. 4f. |
14 | 14 Art. 22ff. bzw. Kapitel III der BasisVO; im Folgenden EFSA; vgl. Fuchs, Lebensmittelsicherheit in der Mehrebenenverwaltung, S. 85ff. |
15 | 15 Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, S. 33. |
16 | 16 Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit, KOM 1999 (719); Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, S. 34; von Dannwitz, |
17 | 17 Anschaulich Gelbert, Die Risikobewältigung im Lebensmittelrecht, S. 5ff.; Nöhle, |
18 | 18 Viell, |
19 | 19 Gelbert, Die Risikobewältigung im Lebensmittelrecht, S. 6; Gelbert, in: Leible/Meyer, Risiko als Thema des Lebensmittelrechts, S. 31, 31; ähnlich Streinz, |
20 | 20 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 65. |
21 | 21 Zentral ist in diesem Zusammenhang der Begriff der [polizeilichen] Gefahr, worunter nach BVerfGE 120, 274, 328f. eine Sachlage verstanden wird, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schadenseintritt führt. Das klassische, polizeiliche Gefahrenabwehrrecht knüpft dementsprechend an einen konkreten Sachverhalt an, aus dem sich eine auf bekanntem Erfahrungswissen beruhende Wahrscheinlichkeit auf einen möglichen Schadenseintritt schließen lässt. Entscheidend ist hierbei die Verknüpfung bzw. das Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Schaden sowie die Überblickbarkeit und Vorhersehbarkeit in Bezug auf das prognostische Element, vgl. hierzu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 157, 163; Schulze-Fielitz, DÖV 2011, 785, 786. |
22 | 22 Gelbert, in: Leible/Meyer, Risiko als Thema des Lebensmittelrechts, S. 31, 31; vgl. auch Poscher, Gefahrenabwehr, S. 10; Böhm, |
23 | 23 Gelbert, in: Leible/Meyer, Risiko als Thema des Lebensmittelrechts, S. 31. |
24 | 24 Art. 6 BasisVO. |
25 | 25 Thilo Ortgies, Rechtliches Risikomanagement im Lebensmittelrecht, S. 53. |
26 | 26 Art. 7 BasisVO. |
27 | 27 Di Fabio, |
28 | 28 Exemplarisch Gundel, § 8 Lebensmittelrecht, in: Ruffert (Hrsg.), Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, S. 557, 580, Rn. 32; Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, S. 35; Schuppert, |
29 | 29 Vgl. Art. 6 Abs. 1 BasisVO: „Um das allgemeine Ziel eines hohen Maßes an Schutz für Leben und Gesundheit der Menschen zu erreichen, stützt sich das Lebensmittelrecht auf Risikoanalysen (…)“. |
30 | 30 Art. 3 Nr. 10 BasisVO. |
31 | 31 Art. 3 Nr. 11 BasisVO. |
32 | 32 Art. 3 Nr. 12 BasisVO. |
33 | 33 Art. 3 Nr. 13 BasisVO. |
34 | 34 Vgl. hierzu auch Meisterernst, in: Streinz/Meisterernst, BasisVO/LFGB, Art. 3, Rn. 46, sowie Rn. 51f. |
35 | 35 Felix Ortgies, in: Fischer/Hilgendorf, Gefahr, S. 55, 58. |
36 | 36 Zu der aufgeteilten Zuständigkeit von Risikobewertung und Risikomanagement vgl. Simon, Kooperative Risikoverwaltung im neuen Lebensmittelrecht, S. 112. |
37 | 37 Rathke, in: Sosnitza/Meisterernst (ehem. Zipfel/Rathke), Art. 3 BasisVO, Rn. 63; Felix Ortgies, in: Fischer/Hilgendorf, Gefahr, S. 55, 58. |
38 | 38 Art. 7 Abs. 1 BasisVO. |
39 | 39 Vgl. hierzu auch Kraft/Grugel/Preußendorff, |
40 | 40 Rathke, in: Sosnitza/Meisterernst (ehem. Zipfel/Rathke), Art. 7 BasisVO, Rn. 14. |
41 | 41 Zu den Maßnahmen vgl. Art. 7 Abs. 2 BasisVO. |
42 | 42 So bereits Untermann/Hartig, |
43 | 43 Art. 3 Nr. 9 BasisVO. |
44 | 44 Art. 3 Nr. 14 BasisVO. |
45 | 45 Rathke, in: Sosnitza/Meisterernst (ehem. Zipfel/Rathke), Art. 3 BasisVO, Rn. 53f., der auf den naturwissenschaftlichen Hintergrund dieses Risikobegriffes verweist; Meisterernst, Lebensmittelrecht, S. 30. |
46 | 46 Thilo Ortgies, Rechtliches Risikomanagement im Lebensmittelrecht, S. 72; Joh/Krämer/Teufer/Unland, |