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CB 2024, I
Thüsing 

CB 2024, Heft 03, Umschlagteil S. I (I)

Compliance vor dem EuGH

„Der EuGH lässt sich ‚vom Geist der Vorschriften‘ leiten.“

Vor dem EuGH zu argumentieren ist etwas Besonderes. Schon das beeindruckende Setting macht es auch für den, der schon mehrfach dort war, zu einer Herausforderung. Man schaut im wahrsten Sinne des Wortes auf zum Gericht.

Aber nicht das macht das Plädoyer so anders, sondern auch die Art zu argumentieren. Der EuGH beantwortet stets nur die Frage, die ihm vorgelegt wurde. Er bekommt damit immer nur einen Teil des Rechtsstreits präsentiert – juristisch, wie auch tatsächlich. Der Sachverhalt wird ggf. als wahr unterstellt – und aufbauend auf ihm die juristische Antwort formuliert. Hierbei können Konsequenzen aus dem Blick geraten, die dem Juristen des Heimatlandes des Rechtstreits wie selbstverständlich bewusst sind, und die er daher auch mit in seine juristischen Erwägungen einbezieht. Auch kann er besser beurteilen, wie systemkonform sich die ein oder andere Interpretation des Europarechts in den Kontext des nationalen Rechts einfügt – stimmig und passend, oder schief und mit erheblichen Friktionen. Will man dem Gericht helfen, zu guten Antworten zu kommen, kann es manchmal hilfreich oder gar notwendig sein, auf diese Konsequenzen hinzuweisen.

Besonders ist auch die Art des juristischen Arguments. Nun wird der EuGH nicht müde zu betonen, dass auch für ihn die klassischen Topoi Wortlaut, Genese, Kontext und Telos maßgeblich sind. Aber wohl doch in anderer Akzentuierung als in Deutschland. Die historische Auslegung zählt nicht allzu viel – wenn auch mehr als etwa im traditionellen Verständnis des anglo-amerikanischen Rechtskreises, das einst Justice Scalia so plastisch formulierte: „[...] [W]e are a Government of laws, not committee reports. [...] Today’s decision reveals that, in their judicial application, committee reports are a forensic rather than an interpretive device, to be invoked when they support the decision and ignored when they do not.“ Insbesondere aber der Effet utile (ob teleologisches Argument oder eigenständiger Auslegungstopos) öffnet sehr viel mehr Spielräume des Argumentierens, als es deutscher Tradition entspricht. Ganz generell stellte der EuGH zudem früh fest, dass er sich bei der Auslegung „vom Geist der Vorschriften“ leiten lässt. Dies zeigt bereits die Formulierung etwa in der Rechtssache van Gend & Loos, wo der Gerichtshof den Geist der Verträge vor ihrer Systematik und sogar vor dem Wortlaut nennt. Die Berechenbarkeit europäischen Rechts wird dadurch erheblich gemindert. Auch über die primärrechtskonforme Auslegung können ganz unerwartete Ergebnisse erlangt werden. Urteile wie Test-Achats etwa belegen das m. E. deutlich. Das kann dazu führen, dass ein mühsam errungener politischer Kompromiss bei Schaffung einer Richtlinie plötzlich noch einmal judikativ nachgeschärft wird.

All dies führt dann auch dazu, dass das Argument, das vor dem Gericht überzeugen will, anschlussfähig an die juristischen Traditionen ganz unterschiedlicher Länder sein muss. Die Richter des EuGH sind ganz unterschiedlich juristisch sozialisiert. Ehemalige Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Professoren, Justizbeamte und Politiker – studiert in aller Herren Länder. Diese Heterogenität zwingt dazu, Argumente zu entwickeln, die dennoch allen zugänglich sind. Mein – sehr subjektiver – Eindruck ist: Die letzten Epizykeln deutscher Dogmatik können da zuweilen weniger überzeugen als ein unmittelbar einleuchtender Policy-Aspekt.

Europarecht ist unser Schicksal. Recht vor dem EuGH heißt eben auch: Compliance vor dem EuGH. Auch hier wird das Gericht wichtiger und wichtiger – Whistleblowing und Lieferkette geben davon noch einmal jüngst eindrucksvoll Zeugnis. Umso wichtiger ist, dass wir beim Blick auf diese Regelungen immer auch die europarechtliche Brille aufziehen und dass wir uns fragen: „Wie würde der EuGH entscheiden?“ Der Dialog zwischen nationaler und europäischer Ebene ist hierfür wichtig. Nicht alles muss nach Luxemburg, aber vieles dann eben doch. Es bleibt spannend.

Abbildung 1

Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn. Er ist Herausgeber des Compliance-Beraters. Er ist Mitglied des Vorstands der GDD, der größten deutschen Datenschutzorganisation.

 
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