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EWS 2021, I
Klindt 

Vorwärts in Richtung einer europäischen Rechtsdebatte!

Abbildung 1

Die Rechtsanwendung muss sich nicht mehr mit Umsetzungsgesetzen aufhalten, sondern kann die Verordnung interpretieren

Die europäische Legislative verändert handwerklich ihr Format. Und das seit einigen Jahren, vor allem aber seit einigen Jahren zunehmend schneller: Nachgerade jede Europäische Richtlinie, die zur Überarbeitung ansteht, erfährt zugleich einen Rechtsformwechsel und wird in neuer Generation als Europäische Verordnung verabschiedet. Neue EU-Rechtsakte – wie die bedeutsame KI-Verordnung (COM(2021) 206 final) – werden erst gar nicht mehr als Richtlinien-Vorschlag diskutiert. Ansonsten weit und breit die Transformation zur Verordnung: Aus der Medizinprodukte-Richtlinie wurde die Medizinprodukte-Verordnung, aus der Biozidprodukte-Richtlinie die Biozidprodukte-Verordnung, natürlich die Datenschutz-Richtlinie in die DSGVO oder demnächst die Maschinen-Richtlinie in die schon vorgeschlagene Maschinen-Verordnung (COM/2021/202 final). Der Wandel hin zur Verordnung führt zu einer weitergehenden Rechtsangleichung innerhalb der Europäischen Union, indem Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume genommen werden und nationale Besonderheiten in den Hintergrund treten. Aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger sind mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu erwarten.

Aber auch für uns europäische Juristinnen und Juristen stellt dies eine großartige Chance dar: nämlich eine deutlich vereinfachte Einstiegsmöglichkeit in eine echte europäische Debattenkultur. Denn nunmehr können sich alle auf den denselben Rechtsakt beziehen, was Diskussionen – hoffentlich – effektiv verdichten, ja erstmals ermöglichen wird. Die alte Welt der Richtlinie war eine Regulierungswelt voller Respekt vor dem tradierten nationalen Rechtskodex: weniger aus Gründen der Subsidiarität als vielmehr aus der Notwendigkeit, den nationalen Umsetzungsakt möglichst passig in die historisch entstandene Landschaft des jeweiligen Mitgliedstaats einzufügen. Das führt nur zuweilen zu isolierten Umsetzungsgesetzen als stand-alone-Lösung; häufiger war eine Einfügung in vorhandene Kodifikationen. Zusätzlich verkompliziert wurde die Situation, indem Mitgliedstaaten die Richtlinien unterschiedlich interpretierten und deswegen auch unterschiedlich umsetzten. Für eine europaweite, auch nur rechtsvergleichende Diskussion galt es also immer, zuvor das Regelungsumfeld, die rechtshistorischen Wurzeln und die Architektur der nationalen Vorschriftenstruktur zu verstehen. Das war ohne Zweifel anspruchsvoll, tiefsinnig und machbar. Und es lief doch auf ein Nebeneinander nationaler Rechtsinseln heraus, die eigentlich erst durch EuGH-Entscheidungen sichtbar wurden, in denen ein Mitgliedstaat sein nationales Recht am Sekundärrecht messen lassen musste. Die Rechtsanwendung wurde erschwert. Gleichzeitig ließ sich die durch die Richtlinien bezweckte Rechtsangleichung nur eingeschränkt erreichen.

In einer Europäischen Union stetig zunehmender Verordnungen wird sich dies hoffentlich ändern, auch wenn jedenfalls die DSGVO-Debatten noch immer recht national wirken. Eine wohltuende Ausnahme bildet die EU-weite Bußgeldübersicht des Twitter-Accounts @dsgvo-portugal.de.

Ein gemeinsamer, einziger Rechtsakt hat eine völlig andere Befähigung zur Konzentration und Fokussierung jeder Diskussion: Ob nationale Gerichte oder Anwaltskanzleien, ob rechtswissenschaftliche Lehrstühle oder Ministerialbeamte, ob Inhouse-Rechtsabteilungen oder kommunale Rechtsämter – der fruchtbare Austausch, das Aufschnappen anderer Ideen und die Widerlegung der eigenen Argumentation werden unter dem Regime vereinheitlichter Regelungen schlichtweg einfacher. Die Rechtsanwendung muss sich nicht mehr mit der Auslegung nationaler Umsetzungsgesetze aufhalten, sondern kann tatsächlich das Unionsrecht interpretieren. Von Finnland bis Portugal und von Griechenland bis Irland kann es bei Verordnungen einen wirklichen grenzüberschreitenden Meinungskampf um das plausibelste Argument geben. Nationale Vorprägungen werden natürlich trotzdem weiterhin bestehen. Diese ermöglichen es aber den Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwendern, den eigenen Horizont zu erweitern, wodurch Diskussionen eher angeregt als erschwert werden.

Auswirkungen wird die zunehmende Entwicklung zum Instrument der Verordnung auch für die juristische Ausbildung haben. Während diese aktuell noch stark national geprägt ist, werden das europäische Recht und dessen Auslegung weiter an Bedeutung gewinnen. Der Ausbildungsstoff in den Mitgliedstaaten wird sich angleichen und damit ein länderübergreifender Austausch zwischen angehenden Juristinnen und Juristen ermöglicht. Diese Internationalisierung kann in einer globalisierten Welt einen Wettbewerbsvorteil darstellen.

Und: Für die deutschen Verlagshäuser wird zu diskutieren sein, in welcher lingua franca eigentlich zukünftig publiziert werden muss, um der eigenen Autorenschaft in ganz Europa Visibilität und Partizipation in dieser Rechtsdebatte zu sichern. Womöglich wird dies trotz des Brexit noch auf lange Sicht die englische Sprache sein, die damit englischsprachige VO-Kommentierungen aus möglicherweise gar nicht mehr nur deutschen Federn nahelegt. Nicht zuletzt kann mit einem stärkeren Konkurrenzdruck zwischen Verlagshäusern gerechnet werden, wenn nicht mehr 27 verschiedene Kommentierungen benötigt werden, sondern eine einzige unionsweit genutzt werden kann.

Prof. Dr. Thomas Klindt, Rechtsanwalt, München

 
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