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RIW 2021, I
Wilske 

Ausschluss von EU-Mitgliedstaaten: Möglich, sinnvoll, wünschenswert?

Abbildung 1

Die Verteidigung gemeinsamer Werte spricht für die Ausschlussmöglichkeit

Die Gründungsphilosophie der Europäischen Union hat die “Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas” (so Art. 1 EUV) zum Ziel. Mit zunehmender Erweiterung der EU wird diese Vertiefung des Einigungsprozesses aber schwieriger. Das Vereinigte Königreich war schon bei Beitritt zur EU skeptisch hinsichtlich einer föderalen Integration und hat diese Skepsis bekanntlich nie abgelegt. Andere Mitgliedstaaten, die in den Erweiterungsrunden 2004 bis 2013 hinzukamen, waren mehr an einer wirtschaftlichen Integration und an finanzieller Unterstützung interessiert, ohne notwendigerweise föderale Visionen oder den Idealismus der Gründungsstaaten zu teilen – oder sich gar vom Mythos der eigenen nationalen Idee trennen zu wollen. Die Folgen sind bekannt. Gegen Polen und Ungarn laufen schon seit Jahren Art. 7 EUV-Verfahren zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Leider sind dies nicht die einzigen rechtsstaatlichen Problemstaaten.

Die Möglichkeiten der EU, ihr Fundament “Rechtsstaatlichkeit” vor Schaden zu bewahren, erscheinen bürokratisch und langwierig. Den weitgehend finanziellen Sanktionsmechanismen fehlt es bislang an Abschreckungscharakter. Sie nehmen Problemstaaten auch nicht die Möglichkeit, die EU im täglichen politischen Geschäft bloßzustellen, zu erpressen und anderen deutlich zu machen, welchen Hebel man hat, um die EU zu gängeln.

Seit dem Vertrag von Lissabon (2009) ist bekanntlich der freiwillige Austritt eines Mitgliedstaates möglich. Darum geht es Staaten mit Rechtsstaatsdefiziten aber gar nicht, denn wie es die ehemalige Bundesjustizministerin Barley formulierte: “Die Regierung in Polen oder auch die in Ungarn will nicht aus der EU austreten, sondern sie von innen zersetzen.” (Der Spiegel Nr. 27/17. 7. 2021, S. 80). In so einer Situation stellt sich die Frage, ob nicht auch der Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der EU als ultima ratio möglich sein müsste. Immer wieder blitzt dieser Gedanke in der politischen Diskussion auf. Luxemburgs Außenminister Asselborn schlug im Juli 2021 ein Referendum zum Ausschluss Ungarns aus der EU vor (Steingarts Morning Briefing, 22. 7. 2021). Selbst die Kanzlerin drohte in der Finanzkrise 2010 damit, reformunwillige Staaten (zumindest) aus der Euro-Zone auszuschließen (FAZ, 18. 3. 2010, S. 1). Den EU-Institutionen gilt ein Ausschluss als Tabuthema. Die juristische Argumentation erinnert aber häufig an das Palmström-Prinzip, demzufolge nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die Verträge enthalten zwar keine ausdrücklichen Bestimmungen zur Möglichkeit, einen Mitgliedsstaat gegen seinen Willen aus der EU auszuschließen. Nach den allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts wäre dies aber möglich. Nach der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) käme insbesondere die grundlegende Veränderung wesentlicher Umstände nach Vertragsschluss (Art. 62) oder die erhebliche Vertragsverletzung eines Mitgliedsstaates (Art. 60) in Betracht. Es gibt zwar die häufig vertretene Auffassung, dass Art. 7 EUV den Art. 60 WVRK verdränge. Dahinter steht aber die EU-zentrische Vorstellung, dem Völkerrecht im Rechtsverhältnis zu Mitgliedstaaten das Geltungsrecht per se abzusprechen. Tatsächlich solle undenkbar sein, dass ein EU-Mitgliedstaat grundsätzlichste Mitgliedschaftsbedingungen verletzt, ohne dass dies als ultima ratio die Kündigung zur Folge haben könnte (so ausdrücklich Classen/Nettesheim, Europarecht 9. Aufl. 2021, S. 711).

Indes sollte die EU common sense in dieser Frage walten lassen. Die quasi-sakramentale Vorstellung, dass die einmal erworbene Mitgliedschaft in der EU gegen den eigenen Willen auch dann nicht mehr verloren gehen darf, wenn man die Axt an deren Grundlagen legt, ist anmaßend. Selbst die katholische Kirche sieht beim unauflöslichen Bund der Ehe nach kanonischem Recht die Möglichkeit der Annullierung vor. Weder EU-Kommission noch EuGH haben in der Vergangenheit Scheu gezeigt, europäisches Recht im Sinne des gewünschten Ergebnisses anzuwenden. Beim Fall des Ausschlusses eines EU-Mitgliedstaats müsste man sich lediglich auf das (ungeliebte) allgemeine Völkerrecht besinnen.

Wäre ein solches Ausschlussrecht integrationsfeindlich? Keineswegs! Man täte sich bei politisch fragilen Nachfolgestaaten Jugoslawiens wie – langfristig – auch der Türkei deutlich leichter, diesen die Mitgliedschaft anzubieten, wenn die Möglichkeit bestünde, dass diese auch wieder einseitig entzogen werden kann, wenn die Mindesterwartungen nicht erfüllt wurden. De lege ferenda könnte man gar eine Mitgliedschaft auf Probe vereinbaren mit erleichterten Trennungsmöglichkeiten nach Ablauf der Probezeit.

Die Akzeptanz eines Ausschlussrechts auf EU-Ebene wäre letztlich nur die Bestätigung, dass Geschichte und internationale Politik keine Einbahnstraße zu Platons Trias des Guten, Schönen und Wahren sind. Francis Fukuyamas 1989 verkündetes “Ende der Geschichte” mit dem ultimativen Sieg der liberalen Demokratie nach dem Ende des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion war zu kurz gedacht. Der Titel von Fukuyamas letztem in Deutschland erschienenen Buch lautet “Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet” (2019). Vielleicht sollte auch auf EU-Ebene erkannt werden, dass zur Verteidigung gemeinsamer Werte auch gehören muss, ein Instrument zu haben, um sich von solchen Mitgliedstaaten zu trennen, die diese Werte dauerhaft nicht mehr teilen. Dies zu haben und es verhaltensauffällige Mitgliedstaaten auch wissen zu lassen, würde in vielen Fällen den Einsatz überflüssig machen.

Dr. Stephan Wilske, Rechtsanwalt, Stuttgart

 
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