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Abbildung 1

Deutsche Illusionen über Brasiliens Regierung

War der Besuch von Kanzler Scholz in Brasilien ein Schlag ins Wasser? Ja, aber richtig war die Stippvisite dennoch. Brasilien ist zurück auf der Agenda internationaler Investoren. Dies hat weniger mit der Wirtschaftspolitik der neuen Regierung zu tun – von der ist nämlich noch nicht viel zu sehen –, als vielmehr mit dem psychologischen Effekt der Abwahl Bolsonaros, der Energiekrise in Europa und vor allem dem Wunsch westlicher Politiker, sich bei den Wählern mit Klimapolitik zu profilieren. Da kommt ein € 300 Mio.-Geschenk für den Amazonas natürlich zu Hause gut an, von dem in Brasilien jedoch kaum Notiz genommen wurde. Allein die Staatsausgaben für Parteienfinanzierung im Zuge der letzten Wahl betrugen umgerechnet rund € 12 Mrd.

Kurz zum psychologischen Effekt des Regierungswechsels, der hier schon wieder am Verpuffen ist. Lulas anhaltende Popularität in Europa erstaunt. Nach deutschen Maßstäben wäre er kaum gewählt worden, denn zum einen ist er als “Kanzlerkandidat” deutlich zu alt, und zum anderen sind die Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Parteigenossen vor Gericht keineswegs widerlegt worden. Die Aufhebung des Strafurteils beruhte auf Verfahrensfehlern.

Die derzeitige Popularität Lulas in Europa hat vor allem damit zu tun, dass er Bolsonaro besiegte. In dem typischen Schwarz-Weiß-Denken, das in Deutschland und Teilen Europas in Bezug auf Lateinamerika vorherrscht, war Bolsonaro der “Amazonas-Killer” und “Corana-Leugner”, den der charismatische Ex-Präsident Lula in einem Hollywood-reifen politischen Comeback niederrang. Was Corona anbelangt, so kehrt Deutschland gerade vor der eigenen Tür. Ich bin in Brasilien jedenfalls schneller dreimal mit Pfizer geimpft worden als meine 80-jährige Mutter in meiner badischen Heimat. Im Amazonas bekleckerte sich Bolsonaro sicherlich nicht mit Ruhm, allerdings war die Zahl verbrannter und abgeholzter Quadratkilometer in einigen Regierungsjahren von Lulas sozialistischer Arbeiterpartei leider ähnlich hoch.

Was man in Deutschland und Europa nicht verstehen will, ist die Tatsache, dass Klima- und Umweltpolitik in einem Entwicklungsland schlicht und ergreifend einen deutlich niedrigeren Stellenwert haben. Dabei wäre es so einfach, würde man sich nur an das geflügelte deutsche Wort “erst kommt das Fressen, dann die Moral” erinnern. Lula hat im Wahlkampf wortwörtlich versprochen, dass es für alle Picanha regnen wird; Picanha ist das beliebteste Stück vom Rind. Dieses Versprechen und die Erinnerung an die guten alten Zeiten (2002–2010) haben ihm wohl bei der Stichwahl die 2 % Vorsprung eingebracht. Für das Gros der Brasilianer, speziell für Wirtschaftsführer, war die Entscheidung zwischen Bolsonaro und Lula lediglich eine “Wahl zwischen Pest und Cholera”. Die Wirtschaft benötigte (international) dringend eine bessere Reputation. Deshalb sprachen sich zahlreiche Wirtschaftsführer für Lula aus. Damit nahmen sie bewusst – “Pest versus Cholera” – in Kauf, dass die privatisierungs- und marktfreundliche Politik der letzten Jahre enden würde.

Paulo Guedes, Bolsonaros mächtiger Wirtschafts- und Finanzminister, setzte viele wichtige Reformen durch: von der Stärkung der Vertragsfreiheit über die Unabhängigkeit der Zentralbank bis hin zur Privatisierung eines gigantischen Energieunternehmens und zahlreicher Flughäfen. Auch eine dringend nötige Rentenreform bewirkte er bereits im ersten Regierungsjahr. Aus Investorensicht besonders hervorzuheben ist das Gesetz über die Versteigerung von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen. Dieses Gesetz entspricht OECD- und WTO-Standards. Speziell bei den Betreiberlizenzen für Flughäfen kamen in den letzten Jahren erstmals in großem Stil ausländische Bieter zum Zug. Das war unter den ersten Amtsperioden von Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff nicht so.

Das Stichwort OECD ist besonders wichtig bei der Analyse der Situation. Guedes hatte das erklärte Ziel, Brasilien fit für den OECD-Beitritt zu machen. Schritt für Schritt arbeitet er die Anforderungsliste ab. Guedes' Nachfolger, ein Mann ohne nennenswerte Erfahrung in der Wirtschaft, dafür aber mit “sozialdemokratischem Stallgeruch” ausgestattet, erklärte sogleich, dass man das Ziel OECD überdenken müsse. Zusammen mit seinem Chef Lula rückte er wieder Mercosur(l) in den Vordergrund – sehr zur Freude der deutschen Politik, die sich in den Merkel- und Schröder-Jahren kaum mit Südamerika beschäftigte. Mit einer Stippvisite à la Scholz ist es nicht getan. Deshalb das harte Wort vom Schlag ins Wasser. Ein Blick nach Frankreich oder China könnte weiterhelfen.

Mercosur(l) ist seit Jahrzenten ein deadman walking, ohne gemeinsamen politischen Willen, und genau deshalb wurde auch das seit den 1990er Jahre schwebende Abkommen EU-Mercosur nie abgeschlossen. Wer aufgrund der jüngsten Mercosur-Gipfelshow in Buenos Aires auf die neue Allianz Argentinien-Brasilien setzt, gibt sich einer Illusion hin. In der zweiten Jahreshälfte wird in Argentinien gewählt. Alles deutet auf eine krachende Niederlage von Lulas Busenfreund, Präsident Fernández, hin.

Was bleibt? Brasilien hat einen riesigen Binnenmarkt und Energiereserven. Paulo Guedes hat die Weichen für eine markfreundlichere Wirtschaft und ausländische Investitionen gestellt. Er berät jetzt die Regierung des “Bundeslandes” São Paulo, also die größte Volkswirtschaft Südamerikas. São Paulo arbeitet weiter an Privatisierungen. Muss man mehr schreiben?

Professor Dr. Peter Sester, Advocado/Rechtsanwalt, Rio de Janeiro

 
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