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SRNL 2022, 16
Fröschen 

Die umsatzsteuerliche Organschaft auf dem Prüfstand des EuGH

von Dirc Fröschen, Aachen

Abbildung 16

Neue Rechtsprechung zur umsatzsteuerlichen Organschaft

Die Rechtsprechung zur umsatzsteuerlichen Organschaft im deutschen Steuerrecht wird zunehmend durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) geprägt. Am 01.12.2022 hat der EuGH zur umsatzsteuerlichen Organschaft zwei bedeutende Urteile gesprochen. Im Mittelpunkt der Entscheidungen steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine finanzielle Eingliederung erfolgen kann und die Frage nach der Bestimmung des Steuerpflichtigen. Dazu hatte der Bundesfinanzhof (BFH) dem EuGH zu zwei Fällen („Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH“ Rs. C-141/20 und Rs. C-269/20 „Finanzamt T“) entsprechende Fragestellungen zur Entscheidung vorgelegt.

In beiden Verfahren ging es um die Frage, ob es einem EU-Mitgliedstaat gestattet ist, Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 der 6. EG-Richtlinie (RL 77/388/EWG, jetzt Art. 11 MwStSystRL) dahingehend auszulegen, anstelle der Mehrwertsteuergruppe ein Mitglied der Gruppe (in Deutschland: den Organträger) zum einzigen Umsatz-Steuerpflichtigen zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen in der Gruppe umzusetzen und dies nicht die Gefahr von Steuerverlusten birgt. Der EuGH hat dies nicht kategorisch zurückgewiesen und die deutsche Regelung nicht per se als unionsrechtswidrig eingestuft. Damit ist zunächst das nach den im Januar veröffentlichten Schlussanträgen der Generalanwältin erwartete Ende der deutschen Umsatzsteuerorganschaft ausgeblieben. Gleichwohl stellt der EuGH das in Deutschland erforderliche Merkmal der finanziellen Eingliederung im Sinne eines Über-Unterordnungsverhältnisses in Frage. Dies sei nicht aus den unionsrechtlichen Regelungen als zwingende Voraussetzung abzuleiten. Dieses Merkmal in seiner derzeitigen Ausprägung, vor allem die Stimmrechtsmehrheit, ist unionsrechtswidrig und muss überdacht werden.

Außerdem wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es einem EU-Mitgliedstaat gestattet ist, Mitglieder einer Organschaft als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer MwSt-Gruppe eingegliedert sind. Der EuGH führt hierzu aus, dass Art. 4 Abs. 4 UAbs. 2 der 6. EG-Richtlinie (RL 77/388/EWG, jetzt Art. 11 MwStSystRL) vorsieht, dass Einheiten, die eine Mehrwertsteuergruppe bilden können, durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sein müssen. Das heißt jedoch nicht, dass dies dazu führt, dass ein Mitglied dieser Gruppe eine nicht selbständige, wirtschaftliche Tätigkeit ausüben muss. Es soll sich aus der Vorschrift somit nicht ergeben, dass ein Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zu dieser Mehrwertsteuergruppe keine selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 4 UAbs. 1 der 6. EG-Richtlinie mehr ausübe.

SRNL 2022 S. 16 (17)

Dies ist eine diametral andere Sichtweise als die des deutschen Gesetzgebers, der bei einer Eingliederung in den Organträger die Selbständigkeit der Organgesellschaft(en) verneint und das ganze Gebilde umsatzsteuerlich und verfahrensrechtlich als einen Steuerpflichtigen behandelt. Konsequenterweise ist nach der deutschen Sichtweise damit auch der Leistungsaustausch zwischen den Mitgliedern der Organschaft ein interner, umsatzsteuerlich unbeachtlicher Vorgang. So wie innerbetriebliche Leistungen zwischen einzelnen Organisationsstellen in einem Unternehmen. Nach Ansicht des EuGH ist dagegen zu prüfen, ob das einzelne Mitglied einer MwSt-Gruppe weiterhin selbständig ist, also seine Tätigkeit weiterhin im eigenen Namen und auf eigene Rechnung und eigenem wirtschaftlichen Risiko ausführt. Sollte dies gegeben sein, können die von dem jeweiligen Mitglied erbrachten Leistungen weiterhin der MwSt unterliegen. Dies wird in der Praxis in der weit überwiegenden Zahl der Fälle zu bejahen sein, da die umsatzsteuerliche Organschaft ein rein steuerrechtliches Konstrukt ist, ohne zivilrechtliche Außenwirkung.

Darin zeigt sich, wie schon in den Schlussanträgen der Generalanwältin, die systematisch unterschiedliche Funktionsweise der MwSt-Gruppe nach der MwStSystRL und der Organschaft nach dem deutschen UStG. Während im deutschen Recht ein Steuerschuldner, bestehend aus mehreren unselbständigen Mitgliedern konstruiert wird, sieht das europäische Recht den Verbund eher als „Deklarationsgemeinschaft“. Die Gruppe deklariert, vertreten durch ein Mitglied die Umsatzsteuer, welche sich als Steuerschuld der Leistungsbeziehungen der Gruppenmitglieder jeweils im Außenverhältnis und untereinander ergibt. Damit sind Leistungsbeziehungen innerhalb der Gruppe nach normalen Maßstäben auf Ebene jedes einzelnen Mitgliedes zu beurteilen. Die Ergebnisse werden zusammengerechnet. Die Mitgliedschaft zur Gruppe vermittelt damit in erster Linie verfahrensrechtliche Vereinfachungen.

Nach den Reaktionen im Schrifttum werden die Urteile größtenteils mit einer gewissen Erleichterung betrachtet. Der befürchtete „große Knall“ sei ausgeblieben. Die deutsche Organschaftsregelung im deutschen Umsatzsteuerrecht ist nicht grundsätzlich europarechtswidrig. Das ist so und mag zunächst beruhigen. Gleichwohl haben diese Urteile Sprengstoff und es bleibt abzuwarten, wie der BFH auf die Beantwortung seiner Vorlagefragen reagiert. Bestehende und geplante Organschaftsfälle sollten beraterseitig unter Beobachtung gestellt werden. Denn der Knall kann noch kommen.

Abbildung 17

Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Dirc Fröschen ist Partner bei Dr. Neumann, Schmeer und Partner, Aachen. Er ist zertifizierter Experte für steuerliche und betriebswirtschaftliche Beratung im Zusammenhang mit Sanierung, Restrukturierung und Insolvenzverwaltung. Weitere Schwerpunkte sind die laufende steuerliche und betriebswirtschaftliche Beratung sowie Prüfung von Unternehmen unterschiedlicher Branchen, insbesondere der öffentlichen Hand, öffentlich-rechtlicher Körperschaften und von Forschungseinrichtungen.

 
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