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WRP 2020, I
Hofmann 

Die „Rückrufrechtsprechung“ des BGH: Ein Fall für den EuGH?

Abbildung 1

Prof. Dr. Franz Hofmann

Sein wahres Gesicht zeigt das Recht vielfach erst, wenn es durchgesetzt wird. Fehlende Rechtsbehelfe schrumpfen strengste materiellrechtliche Regeln zu Papiertigern. Umgekehrt gilt: Was es heißt, sich wettbewerbswidrig verhalten zu haben, wird dem Verletzer mitunter erst im Vollstreckungsverfahren klar, wenn ihm der BGH erklärt, er hätte seine Abnehmer um Rückgabe der in Verkehr gebrachten Produkte ersuchen müssen (BGH, 29.09.2016 – I ZB 34/15, WRP 2017, 305, Rn. 33 – Handlungspflichten eines Unterlassungsschuldners). Die Rückrufrechtsprechung des BGH illustriert einmal mehr die „Schärfe“ des Unterlassungsanspruchs, wie sie zuletzt im Patentrecht erkannt wurde (Stierle, GRUR 2019, 873). Gegen die vom BGH aus Unterlassungstiteln abgeleiteten, weitreichenden Handlungspflichten hat sich freilich heftiger Widerstand formiert (vgl. OLG Düsseldorf, 14.02.2019 – 20 W 26/18, WRP 2019, 637 – Umfang eines Unterlassungsgebots mit dem Inhalt, Ware nicht zu vertreiben, Rechtsbeschwerde: Az. I ZB 19/19). Abhilfe versprechen sich die Kritiker vom EuGH. Den Weg dorthin soll das Bundesverfassungsgericht wegen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG („gesetzlicher Richter“) ebnen (Az. 1 BvR 396/18). Wenn der BGH Rückrufverpflichtungen in genuin unionsrechtliche „Unterlassungsansprüche“ hineinlesen will (Art. 102 Abs. 1 GMV; jetzt: Art. 130 Abs. 1 UMV), hätte er entgegen der Ansicht der Bundesrichter vorher den EuGH befragen müssen (vgl. BGH, 11.10.2017 – I ZB 96/16, WRP 2018, 473 Rn. 43 – Produkte zur Wundversorgung). Unabhängig davon, ob man die neuere Rechtsprechungslinie befürwortet, wäre der BGH gut beraten gewesen, den EuGH einzuschalten. Im Raum stehen nicht nur Details zu Unterlassungsansprüchen, sondern Systemfragen: Nichts weniger als der Bau eines europäischen „Law of Remedies“ steht aus.

Anders als bei Regelungen zum materiellen Recht im engeren Sinne (z. B. Art. 5 ff. UGP-RL) waren bisher die Harmonisierungsbemühungen im Bereich Rechtsdurchsetzung weniger ehrgeizig. Wenn es überhaupt Vorgaben für Sanktionen gibt, erschöpfen sich diese vielfach in vagen Programmsätzen (vgl. Art. 11 UGP-RL). Allerdings: Ein Trend hin zu einer Europäisierung gerade auch der Rechtsfolgen ist klar zu beobachten. Die detaillierten Vorgaben zum enforcement in der Geschäftsgeheimnis-RL sind hierfür ebenso Vorboten wie die Herausbildung erster Leitprinzipien betreffend die Durchsetzung – beispielsweise der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. EuGH, 16.04.2015 – C-388/13 Rn. 57 f., WRP 2015, 698 – Nemzeti Fogyasztóvédelmi Hatóság/UPC Magyarország). Wie weit speziell in Art. 102 GMV a. F. die nationale Regelungshoheit reicht, ist schon deshalb mehr als ungewiss.

Aber auch andere, grundlegende Fragen sind offen: Dies fängt schon damit an, dass es im Unionsrecht womöglich gar keine Unterlassungsansprüche gibt. Die Rede ist hier von „gerichtlichen Anordnungen“ (s. a. Art. 12 Geschäftsgeheimnis-RL). Dies ist kein Zufall. Das Unionsrecht hat mit Blick auf die Rechtsverwirklichungsinstrumente weniger Anleihen bei Windscheid und dem bürgerlich-rechtlichen Anspruchsbegriff (§ 194 Abs. 1 BGB) genommen als beim anglo-amerikanischen „remedy-System“ (F. Hofmann, Der Unterlassungsanspruch als Rechtsbehelf, 2017, § 1, § 3). Auch hierzulande wurde der Unterlassungsanspruch zuerst als rein „prozessualer Rechtsbehelf“ verstanden. §§ 12 S. 2, 862 Abs. 1 S. 2, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB bezeugen dies noch heute (s. a. § 938 ZPO). Dass die Rechtsnatur unionsrechtlicher Rechtsbehelfe nicht nur von akademischem Interesse ist, zeigt die jüngere Geschichte des TMG. Der gescheiterte Versuch, die Störerhaftung abzuschaffen und durch eine „Anspruchsgrundlage für gerichtliche Anordnungen“ zu ersetzen (BT-Drucks. 18/12202, S. 12), litt im Kern am Geburtsfehler der fehlenden Klärung des genuin europäischen „Anspruchsbegriffs“ (vgl. BGH, 26.07.2018 – I ZR 64/17, WRP 2018, 1202 – Dead Island; F. Hofmann, GPR 2017, 176, 181 f.).

So verwundert es auch nicht, wenn bereits um die „Anspruchsgrundlage“ unionsmarkenrechtlicher „Unterlassungsansprüche“ gestritten wird. Während der BGH nun im Einklang mit der bewährten Systematik, wonach Rechtszuweisung und -durchsetzung zwei getrennte Problemkreise betreffen (so § 903 BGB/§§ 1004, 823 Abs. 1 BGB), den „Unterlassungsanspruch“ aus Art. 102 GMV a. F./Art. 130 UMV ableiten will (BGH, 11.10.2017 – I ZB 96/16, WRP 2018, 473 Rn. 43 – Produkte zur Wundversorgung), bemühen andere Art. 9 UMV (BGH, 07.10.2004 – I ZR 91/02, WRP 2005, 616, , 620 – Lila-Schokolade). Auch dies zieht weitere Kreise, wenn man die Debatte um die unionsrechtliche Grundlage wettbewerbsrechtlicher Verkehrspflichten hinzu nimmt (Ohly, GRUR 2017, 441, 443 f.) und Rückrufverpflichtungen als eine Fallgruppe der Verletzung wettbewerbsrechtlicher Verkehrspflichten rekonstruiert (Goldmann, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 4. Aufl. 2016, § 8 Rn. 20). Die Liste der am Rechtsdurchsetzungssystem hängenden Grundfragen lässt sich ohne Weiteres fortsetzen. Umso dringlicher ist es, die Konturen des europäischen Rechtsdurchsetzungsrechts frühzeitig durch gute Vorlagefragen günstig zu beeinflussen.

Prof. Dr. Franz Hofmann, LL.M. (Cambridge)

 
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