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ZHR 188 (2024), 325-335
Mülbert 

Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts – jetzt endlich?*

I. Einleitung

Die Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion “Für Rechtsicherheit und eine lebendige Hauptversammlung – Reformbedarf im Beschlussmängelrecht”1 am 22. 4. 2024 markiert den jüngsten Höhepunkt in der 150-jährigen Diskussion2 um das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht. Der Tenor der beteiligten Wissenschaftler3 war ebenso einhellig wie eindeutig: Es besteht weiterhin Reformbedarf im Grundsätzlichen. Für die Leitlinien einer grundlegenden Reform orientierten sie sich – teils wenig überraschend – an den vom Arbeitskreis Beschlussmängelrecht4 aus dem Jahre 2008 entwickelten Vorstellungen und den teilweise gleichsinnigen oder jedenfalls ganz ähnlichen Empfehlungen der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 72. DJT5 auf der Grundlage des Gutachtens vonZHR 188 (2024) S. 325 (326) Jens Koch.6 Gleichwohl lehnte der Rechtsausschuss den Antrag mit den Stimmen der Ampelkoalition ab, wenn auch mit durchaus nuancierenden Begründungen.7 Bemerkenswerterweise wurde von Seiten der Bundesregierung dabei auch ins Feld geführt, dass “[s]chon die Notwendigkeit einer Reform . . . höchst umstritten” sei.8

Andererseits enthielt schon der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode den Auftrag, im aktienrechtlichen Beschlussmängel im Interesse des Minderheitenschutzes und der Rechtssicherheit Brüche und Wertungswiderspruche zu beseitigen.9 Die Ampelkoalition ihrerseits hat sich dem Vernehmen nach im Zusammenhang mit der Einführung der virtuellen Hauptversammlung10 sogar darauf verständigt, eine mögliche Reform des Beschlussmängelrechts in Angriff zu nehmen. Die Hoffnung erscheint daher nicht ganz unbegründet, dass die jetzige Anhörung im Rechtsausschuss in der nächsten Legislaturperiode als Grundlage für eine qua Koalitionsvertrag beauftragte grundsätzliche Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts wird fungieren können.

In diesem Sinne sind im Folgenden die zentralen Gründe und Leitlinien für eine solch grundsätzliche Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts nebst den etwaigen Konsequenzen für das Beschlussmängelrecht sonstiger Gesellschaftsformen nochmals festzuhalten.

II. Konzeptioneller Sonderweg des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts

Ab dem Jahr 2005 hat der Gesetzgeber namentlich auf die mit dem Stichwort “räuberische Aktionäre” verbundenen Schwierigkeiten der Praxis reagiert und das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht durch einige massiveZHR 188 (2024) S. 325 (327) konzeptionelle Eingriffe zu einer Art Sonderrecht umgestaltet. In Reaktion auf das zunehmende Auftreten “räuberischer” Aktionäre hat er – beginnend mit dem UMAG11 und zuletzt perfektioniert durch das ZuFinG12 – die Voraussetzungen für die Erhebung der Anfechtungsklage verschärft,13 bewertungsbezogene Informationsmängel in der Hautversammlung14 sowie Bewertungsmängel15 als Anfechtungsgründe ausgeschlossen und das Spruchverfahren an die Stelle der Anfechtungsklage gesetzt16 sowie das Freigabeverfahren zur Überwindung einer rechtlichen17 oder faktischen Registersperre, also die Möglichkeit zur Herbeiführung der bestandskräftigen Eintragung fehlerbehafteter Hauptversammlungsbeschlüsse mittels der Freigabeentscheidung des Prozessgerichts,18 eingeführt.

Diese Umgestaltung hat durchaus Wirkung gezeigt. Räuberische Aktionäre seien heute nicht mehr anzutreffen, und die Zahl der jährlich neu erhobenen Beschlussmängelklagen ist deutlich zurückgegangen.19 Gleichwohl belegt diese Entwicklung keinesfalls, dass mit dem Beschlussmängelrecht nunmehr alles zum Besten steht. Können gerade auch einige gewichtige Informationsfehler nicht mehr als Anfechtungsgrund dienen, ist der rein zahlenmäßig gemessene Rückgang der Anfechtungsklagen ein Beleg für – nichts.

Vor allem aber waren diese tiefgreifenden Eingriffe nur um den Preis zu haben, die Rechtsbehelfe der Aktionäre bei Beschlussmängeln teils überschießend und erheblich wertungswidersprüchlich zu beschränken. Der Gesetzgeber habe sich mit seinem immer weiter verfolgten Regelungsansatz letztlich in eine “konzeptionelle Sackgasse”20 manövriert. Die damit einhergehenden Kollateralschäden bedürfen wohl immer wieder – und damit auch im Folgenden – der Verdeutlichung.

ZHR 188 (2024) S. 325 (328)

III. Defizite des konzeptionellen Sonderwegs im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht

1. Vermeidung potentieller Ansatzpunkte für Beschlussmängelklagen als oberstes Gebot

Die mehrfachen gesetzlichen Einhegungen haben es nicht geschafft, die Hauptversammlung wieder zu einem Ort der offenen und lebendigen Diskussion zu machen, wie zuletzt wieder die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex konstatieren musste.21 Denn abgesehen von bewertungsbezogenen Informationsmängeln in der Hauptversammlung können alle sonstigen Fehler bei der Informationserteilung weiterhin eine Anfechtungsklage mit Kassationswirkung begründen, sofern ein objektiv urteilender Aktionär die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte angesehen hätte (§ 243 Abs. 4 S. 1 AktG). Um derartige Fehler zu vermeiden, beschränkten sich Verwaltungen bei der Informationserteilung auf das gesetzlich gebotene Informationsminimum, statt das ihre zur – allseits erwünschten – offenen und lebendigen Debatte beizutragen, und sehen weit gehend davon ab, Fragen ohne Relevanz für die Beschlussfassungen (§ 131 Abs. 1 S. 1 AktG) nicht zu beantworten. Die Leiter der Hauptversammlungen ihrerseits machen von ihren Möglichkeiten, insbesondere durch Redezeitbeschränkungen und gegebenenfalls weitere Ordnungsmaßnahmen22 einen konzisen sachbezogenen Ablauf der Hauptversammlung sicherzustellen, nur zögerlich Gebrauch. Festzuhalten ist ferner, dass die hybride Hauptversammlung auch wegen der Anfechtungsrisiken bislang ein seltener Ausnahmefall ist.23 Schließlich werden gezielt hauptversammlungsvermeidende Transaktionsgestaltungen zur Reduzierung von Missbrauchsrisiken gewählt,24 frei nach dem Motto: Die beste Hauptversammlung ist keine Hauptversammlung.

2. Spruchverfahren statt Kassation des Beschlusses

Eine besondere Schieflage des geltenden Beschlussmängelrechts resultiert sodann daraus, dass Bewertungsfehler und bewertungsbezogene Informationsfehler umfassend als Anfechtungsgrund ausgeschlossen und die AktionäreZHR 188 (2024) S. 325 (329) darauf verwiesen werden, einen etwaigen Zuzahlungsanspruch im Spruchverfahren geltend zu machen. Bei Bewertungsfehlern und bewertungsbezogenen Informationsfehlern steht betroffenen Aktionären also gar kein Rechtsbehelf zur Verfügung, sondern nur das Spruchverfahren, und zwar selbst bei schwersten derartigen Fehlern. In Abwandlung eines geläufigen Werbeslogans lautet die durchgängige Konzeption des Aktien- und Umwandlungsgesetzes bei derartigen Fehlern nunmehr:

“Wenn's um Geld geht, Spruchverfahren.”

Wenn es um den für Aktionäre typischerweise zentralen Aspekt ihrer Beteiligung, den Wert ihrer Anteile, geht, steht ihnen die scharfe Waffe der Anfechtungsklage mit der Folge einer Nichtigerklärung des betreffenden Beschlusses nicht zu Gebote, wohl aber bei sonstigen Verfahrens- und auch Inhaltsmängeln. Dass diese ganz unterschiedlichen Rechtsfolgenregimes im Rahmen des geltenden Beschlussmängelrechts eine auch im Lichte des Art. 3 GG gebotene sachgerechte Differenzierung der Fehlerfolgen von Beschlussmängeln leistet, erscheint zweifelhaft.

Eine positive Rechtfertigung erscheint erst dann möglich, wenn man sich für die Rechtsfolgen von Beschlussmängeln von der binären Logik des geltenden Beschlussmängelrechts – Vernichtbarkeit/Nichtigkeit v. Wirksamkeit – löst und die jeweilige Rechtsfolge anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips bemisst. Auf der Basis dieses Ansatzes sind Bewertungsmängel und bewertungsbezogene Informationsmängel nicht als derart gewichtiger Mangel zu bewerten, dass es im Ausgangspunkt der Kassation des Beschlusses bedürfte; das Spruchverfahren tritt also nicht an die Stelle der an sich gebotenen Anfechtungsklage, sondern bildet die angemessene primäre Rechtsfolge. Damit entfallen dann auch die Bedenken, denen ein gesetzlich angeordnetes “dulde und liquidiere” im Grundsätzlichen begegnet.25

3. Freigabeverfahren: (kein) Geld statt Recht

Das Freigabeverfahren des § 246a AktG hat in der Praxis zwar vielfach zur raschen Eintragung eintragungspflichtiger Beschlüsse über Strukturmaßnahmen geführt. Es erfasst aber nicht alle eintragungspflichtigen Beschlüsse, insbesondere nicht Satzungsänderungen, und auch nicht die Wahl des Abschlussprüfers sowie diejenige von Aufsichtsratsmitgliedern. Letzteres ist für Gesellschaften umso misslicher, als der BGH es ablehnt, bei einer nichtigen Aufsichtsratswahl die Grundsätze zur fehlerhaften Organbestellung anzuwenden.26

Der grundlegende “Webfehler” des Freigabeverfahrens besteht allerdings darin, dass das Prozessgericht – vorbehaltlich schwerer Rechtsverstöße – nach freier Überzeugung auf Freigabe entscheiden kann, wenn die vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre AktionäreZHR 188 (2024) S. 325 (330) die Nachteile für den Antragsgegner überwiegen (§ 246a Abs. 2 Nr. 3 AktG), und dass dem Aktionär dann nur der in der Praxis ganz irrelevant gebliebene Anspruch auf Ersatz (einzig) seines individuellen Schadens verbleibt (§ 246a Abs. 5 AktG). Indem der klagende Aktionär einen Rechtsverstoß hinzunehmen hat, wenn die Abwägung der beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen, nämlich die der Gesellschaft und ihrer Aktionäre einerseits und die des jeweiligen klagenden Aktionärs andererseits, zugunsten der Gesellschaft ausfällt – was praktisch stets der Fall sein wird –, hat der Gesetzgeber eine Art “dulde und liquidiere” eingeführt. Dabei geht das Freigabeverfahren über die vom BVerfG mit dem Nassauskiesungsbeschluss27 längst beendete Praxis, einen rechtswidrigen Eingriff hinzunehmen und stattdessen Geldersatz zu verlangen, noch hinaus. Es begründet nämlich sogar einen gesetzlichen Zwang zur Hinnahme einer rechtswidrigen Maßnahme zugunsten eines Privaten (hier: die AG) gegen bloßen Geldersatz und erscheint daher mit Grundprinzipien unserer Rechtsordnung umso weniger vereinbar. Rechnung lässt sich diesen Bedenken nur tragen, indem das Beschlussmängelregime davon Abstand nimmt, jeden relevanten Fehler als Anfechtungsgrund zu bewerten, und stattdessen die Rechtsfolgen eines Fehlers an dessen jeweiliger Gewichtigkeit ausrichtet.

Ohnehin geht die Beeinträchtigung der so genannten Polizeifunktion28 des einzelnen Aktionärs durch das Freigabeverfahren sogar noch viel weiter. Zum einen ist der Anspruch des klagenden Aktionärs im Falle einer positiven Freigabeentscheidung auf den Ersatz seines eigenen Schadens beschränkt; mit dessen Geltendmachung wird er also nicht mehr im Kollektivinteresse tätig. Diese individualisierende Abkehr von der Polizeifunktion ist (nur) insofern konsequent, als schon bei der Abwägung auf Seiten des klagenden Aktionärs lediglich dessen individuelle Interessen eingestellt werden. Zum anderen – und diese Restriktion lässt sich nur als “krass” kennzeichnen – hat eine Freigabeentscheidung zu ergehen, wenn der klagende Aktionär nicht nachweisen kann, dass er seit Bekanntmachung der Einberufung einen anteiligen Betrag von mindestens 1.000 Euro hált (§ 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG). Die Polizeifunktion von Kleinaktionären erledigt sich damit zur Gänze, weswegen diese eine Freigabeentscheidung nicht einmal bei schweren formellen oder materiellen Beschlussmängeln verhindern können.

ZHR 188 (2024) S. 325 (331)

IV. Eckpunkte einer Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts

1. Grundkonzept

Die nach Vorstehendem dringend gebotene grundsätzliche Reform des Beschlussmängelrechts hat das Recht jedes einzelnen Aktionärs, Fehler bei der Beschlussfassung durch die Hauptversammlung geltend zu machen, uneingeschränkt zu wahren. Die beiden Beschlussmängelklagen – Nichtigkeitsklage und Anfechtungsklage – sind das einzige Kontrollrecht des Aktionärs gegenüber Hauptversammlungsbeschlüssen. Zudem ist es die einzige Möglichkeit für einen einzelnen (Klein-)Aktionär, die Vorstands- und Aufsichtsratstätigkeit durch die Anfechtung des Entlastungsbeschlusses zumindest mittelbar zu kontrollieren. Gemäß der Macrotron-Judikatur des BGH ist ein Entlastungsbeschluss nämlich anfechtbar, wenn Gegenstand der Entlastung ein Verhalten ist, das eindeutig einen schwerwiegenden Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt.29 Das ist umso bedeutsamer, als dem einzelnen Aktionär kein Recht zusteht (actio pro socio), selbst Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Organmitglieder im Namen der Gesellschaft geltend zu machen.

Anzusetzen hat die grundsätzliche Reform des Beschlussmängelrechts damit bei den Rechtsfolgen einer – weiterhin nicht vom Erreichen eines Quorums abhängig zu machenden –Beschlussmängelklage des Aktionärs. Diese bedürfen der Flexibilisierung im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter Abkehr von der das Beschlussmängelrecht bislang kennzeichnenden binären Fehlerlogik: Vernichtbarkeit/Nichtigkeit v. Wirksamkeit. Einer solchen Flexibilisierung geht es entgegen gelegentlicher Fehlvorstellungen nicht darum, den Aktionären ihre Rechte zu nehmen. Vielmehr geht es – auch in deren Interesse (!) – um ein Menü jeweils passgenauerer Rechtsfolgen statt der bloßen Vernichtbarkeit/Nichtigkeit. In der bisherigen Beschlussmängelwelt werden Fehler bei der Beschlussfassung aufgrund der Kassationswirkung einer erfolgreichen Klage nur sanktioniert, wenn der Fehler kausal oder jedenfalls relevant wird; andernfalls bleibt er unbeachtlich. Das ist vom Ergebnis her gedacht, nicht vom Fehler her.

Im Lichte dieser Erwägungen hat der Arbeitskreis Beschlussmängelrecht im Jahre 2008 einen umfassenden Vorschlag für eine gesetzliche Neuregelung vorgelegt.30 Die Eckpunkte dieses ausgereiften Regelungsvorschlags verstehen sich auch weiterhin als Leitlinien für eine grundsätzliche Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts in einer kommenden Legislaturperiode.

ZHR 188 (2024) S. 325 (332)

2. Anwendungsbereich

Eine Reform des Beschlussmängelrechts gemäß den nachstehend skizzierten Eckpunkten sollte für alle Aktiengesellschaften gelten.

Allenfalls erwägenswert erscheint eine Beschränkung auf börsennotierte Aktiengesellschaften unter Verweis darauf, dass Beeinträchtigungen der Diskussionskultur vor allem für (größere) Publikumsgesellschaften zu konstatieren sind. Bei diesem Ausbau des Rechts der börsennotierten Aktiengesellschaft bedürfte das Freigabeverfahren für die vom neuen Beschlussmängelrecht nicht erfassten Gesellschaften einer Einschränkung des derzeitigen § 246 Abs. 2 Nr. 3 AktG dahingehend, dass eine positive Freigabeentscheidung bei Vorliegen eines Beschlussmangels nicht darauf gestützt werden kann, dass bei der Interessenabwägung die wirtschaftlichen Vollzugsinteressen der Gesellschaft überwiegen.

3. Einschränkungen der Nichtigkeitsfolgen

Die Nichtigkeitsgründe des § 241 Nr. 1 und 2 AktG bedürfen der Einschränkung auf gravierende Fälle, die eine Rechtsordnung nicht tolerieren kann. Nichtigkeit sollte nur noch eintreten, wenn die Einberufung der Hauptversammlung die Gesellschaft, die Zeit oder den Ort der Versammlung nicht klar benennt (Nr. 1) bzw. wenn die notarielle Niederschrift des Beschlusses entgegen § 130 Abs. 1 AktG gänzlich fehlt (Nr. 2).31

4. Rechtsfolgendifferenzierung statt “Alles oder Nichts”-Prinzip der §§ 241 Nr. 5, 243 AktG

Eine Beschlussmängelklage mit der Folge der Nichtigerklärung des Beschlusses – derzeit also die Anfechtungsklage gemäß den §§ 243, 241 Nr. 5 AktG – soll nur noch für besonders schwere Fehler bei der Beschlussfassung vorgesehen sein.32 Bei Mängeln von geringerem Gewicht sollte das Gericht die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses feststellen und nach seinem Ermessen zudem eine oder auch mehrere weitere Sanktionen verhängen können. Als derartige weitere Sanktionen in Betracht kommen die Aufhebung des Beschlusses mit Wirkung ex nunc, die Auferlegung eines Rügegeldes und die Feststellung des Beschlussmangels nebst Veröffentlichung des Tenors der Entscheidung in den Gesellschaftsblättern. Überdies sollte die Gesellschaft verpflichtet sein, dem Kläger den Schaden zu ersetzen, den dieser durch die Aufrechterhaltung des Beschlusses erleidet.33

Bei Verfahrensmängeln, wie insbesondere auch Informationsmängeln ohne potenzielle Relevanz für die Beschlussfassung, erlaubt dies eine fehlerangemessene Sanktionierung auch mit präventiver Wirkung und erspart zugleichZHR 188 (2024) S. 325 (333) die überschießende, weil Gewicht und (Aus-)Wirkungen des konkreten Fehlers unberücksichtigt lassende, Kassation eines Beschlusses.

5. Verfahrenskonzentration und Beschleunigung

Das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat, soll die Eingangszuständigkeit für alle Beschlussmängelklagen erhalten.34 Diese Eingangszuständigkeit würde nicht nur das Verfahren bis zum Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung in den allermeisten Fällen beschleunigen, sondern auch zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei der fehlerorientierten Auswahl und Verhängung weiterer Sanktionen beitragen.

Flankierend wäre vorzusehen, dass das angerufene Oberlandesgericht für den Fall, dass eine Entscheidung nicht innerhalb von drei Monaten nach Klageerhebung ergeht, in dieser Frist durch Beschluss anordnet, dass die Klage der Eintragung nicht entgegensteht, es sei denn, dass das Gericht nach freier Überzeugung zu der Auffassung gelangt, dass die Klage zulässig ist und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschluss an einem Nichtigkeitsmangel oder einem besonders schweren, zur Nichtigerklärung führenden Mangel leidet.35

V. Konsequenz für das Beschlussmängelrecht sonstiger Gesellschaftsformen

1. GmbH

Mit einer grundsätzlichen Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts gemäß den vorstehend entfalteten Eckpunkten würde im GmbH-Recht die Grundlage für bisherige analoge Anwendung der §§ 241–243, 247 ff. AktG entfallen. Diese Lücke ließe sich mit der schon für das geltende Recht propagierten analogen Anwendung der soeben vom MoPeG36 eingeführten §§ 110 ff. HGB37 schließen, gegebenenfalls ergänzt um eine Freigaberegelung in Anlehnung an § 246a AktG, die freilich um die Freigabetatbestände des § 246a Abs. 2 Nr. 2, 3 AktG zu bereinigen wäre.

2. Keine gesellschaftsformübergreifende Harmonisierung

Weder angezeigt noch auch nur möglich erscheint dagegen eine weitergehende, Gesellschaftsformen übergreifende Harmonisierung des Beschluss-ZHR 188 (2024) S. 325 (334)mängelrechts, die die Sonderstellung des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts beendet, und zwar auch nicht bei Beibehaltung der heutigen §§ 241 ff. AktG. Rechtsstrukturelle ebenso wie rechtstatsächliche Unterschiede stehen einer solchen Harmonisierung entgegen. Denn nur die Aktiengesellschaft kennt die Publikumshauptversammlung, und nur bei dieser sind Anfechtungsrisiken wegen insbesondere fehlerhafter Informationserteilung in der Hauptversammlung für die Praxis von zentraler Bedeutung. Das sich ausgehend vom Problem der räuberischen Aktionäre herausbildende Sonderrecht der aktienrechtlichen Beschlussmängelklagen ist für GmbH, OHG und KG irrelevant und sogar gänzlich ungeeignet. Insbesondere kommt es auch nicht in Betracht, für diese Gesellschaftsformen breitflächig das selbst von der Politik als “langwierig und teuer”38 eingeschätzte Spruchverfahren einzuführen. Dass Verschmelzungsbeschlüsse wegen Bewertungsmängeln auch bei diesen Gesellschaften nicht angefochten werden können, sondern die Gesellschafter ins Spruchverfahren verwiesen werden, begründet für sich noch keine dringend korrekturbedürftige Unwucht im Beschlussmängelrecht.

Umgekehrt ist allein im Aktienrecht die durchgängige Notwendigkeit einer verbindlichen Feststellung des Beschlussergebnisses – und damit eine wesentliche Vereinfachung für die Anwendung des Beschlussmängelrechts – vorgesehen.39 Bei der GmbH hängt die richtige Klageart hingegen davon ab, ob eine verbindliche Feststellung des Beschlussergebnisses erfolgt ist, insbesondere also bei dessen Feststellung durch einen Versammlungsleiter.40 Fehlt es an einer verbindlichen Beschlussfeststellung, ist das rechtmäßige, d.h. das sich ohne den Fehler ergebende Beschlussergebnis mittels der gegen die Gesellschaft gerichteten einfachen (Beschluss-)Feststellungsklage nach § 256 ZPO festzustellen.41 Dieser Klage “kommt im GmbH-Recht erhebliche Bedeutung zu”.42

Für die OHG und die KG hat das MoPeG soeben erst in konzeptioneller Anlehnung an die §§ 241 ff. AktG das zweispurige Modell Nichtigkeitsklage/Anfechtungsklage mit den §§ 113, 114 HGB als gesetzlichen Regelfall eingeführt und jedenfalls nach der Gesetzesbegründung auch für die GbR als Gestaltungsoption43 verfügbar gemacht. Dabei spielt nach dem Normtext keine Rolle, ob eine verbindliche Beschlussfeststellung, etwa durch einen vertraglichZHR 188 (2024) S. 325 (335) bestimmten oder ad hoc bestellten Versammlungsleiter, erfolgt ist oder nicht. Gleichwohl kann im Ergebnis nichts anderes gelten als im GmbH-Recht. Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage kommen nur in Betracht, wenn klar ist, gegen welches Beschlussergebnis sich die Klage richtet.44

VI. Schlussbemerkungen

Die Zeit ist reif für eine grundlegende Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts.45 Für die nächste Legislaturperiode ist der Regierung daher schon heute die Kraft für auch einmal mutige Entscheidungen zu wünschen.

Peter O. Mülbert

*

Der nachstehende Text geht in Teilen auf die Stellungnahme des Verf. zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum Beschlussmängelrecht am 22. 4. 2024 zurück.

1

BT-Drs. 20/9734.

2

S. Wolffson, 11. Deutscher Juristentag, 1873, Bd. II, S. 113 ff. Das Beschlussmängelrecht ist ein “Gebiet, auf dem namentlich das Actiengesetz (. . .) außerordentliche Dunkelheit hervorgebracht” hat und auf dem “nichts wünschenswerther wäre, als die Sache ins Klare und Bestimmte zu stellen.”

3

Mathias Habersack, Jens Koch, Jan Lieder, Doerte Poelzig sowie Verf.; beipflichtend die weiteren Sachverständigen Michael Arnold (Gleiss Lutz und DAV); Melanie Eckardt (Merck KGaA und VCI); Erwin Hemeling (DAI); im Wesentlichen gegenläufig Marc Liebscher (SdK); Marc Tüngler (DSW). Die Stellungnahmen zu Händen des Ausschusses sind abrufbar unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw17–pa-recht-beschlussmaengelrecht-996228.

4

Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, Vorschlag zur Neufassung der Vorschriften des Aktiengesetzes über Beschlussmängel, AG 2008, 617 (Mathias Habersack, Peter Hemeling, Roger Kiem, Ulrich Noack, Carsten Schäfer, Eberhard Stilz, Jochen Vetter sowie Verf.).

5

S. Deutscher Juristentag, 72. Deutscher Juristentag, Beschlüsse zum Wirtschaftsrecht, 2018, S. 27 f. (abrufbar unter https://djt.de/wp-content/uploads/2020/03/181130_djt_internet_72_beschluesse.pdf).

6

Koch, Empfiehlt sich eine Reform des Beschlussmängelrechts im Gesellschaftsrecht?, 2018. Referate von Marc Löbbe, Thomas Heidel, Jessica Schmidt in: Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages, Leipzig, 2019, Band II/1, 2019, S. O 11, O 37, O 101. Begleitaufsätze von Bayer/Möller, NZG 2018, 801; Grigoleit, AG 2018, 645; Mülbert, NJW 2018, 2771; Noack, JZ 2018, 824; nachfolgend Lieder, NZG 2018, 1321; Nietsch, NZG 2018, 1334; Schäfer, Der Konzern 2018, 413; Nachlese von Koch, FS Eberhard Vetter, 2019, S. 317.

7

BT-Drs. 20/11456, S. 5. Zuvor allerdings MdB Thorsten Lieb, BDI-Reihe Wirtschaftsrecht 2/2023, S. 6 f.

8

BT-Drs. 20/11456, S. 5.

9

Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 131, Zeilen 6167 f. (abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/543200/9f9f21a92a618c77aa330f00ed21e308/kw49_koalition_koalitionsvertrag-data.pdf).

10

Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften, BGBl. 2022 I, S. 1166.

11

Gesetz zur Unternehmensintegrität und zur Modernisierung des Anfechtungsrechts (BGBl. 2005 I, S. 2802.

12

Gesetz zur Finanzierung zukunftssichernder Investitionen (Zukunftsfinanzierungsgesetz – ZuFinG), BGBl. 2024 I, S. 354.

13

§ 245 S. 1 Nr. 1, 3 AktG.

14

§ 243 Abs. 4 S. 2 AktG.

15

§§ 255 Abs. 2, 304 Abs. 3 S. 1, 305 Abs. 5 S. 1, 320b Abs. 2 S. 1, 327f S. 1 AktG; §§ 14 Abs. 2, 32, 195 Abs. 2, 210 UmwG; § 243 Abs. 4 S. 2 AktG.

16

§§ 255 Abs. 4, 304 Abs. 3 S. 3, 305 Abs. 5 S. 2, 320b Abs. 2 S. 2, 327f, 327e S. 2 AktG; §§ 15 Abs. 1 S. 2, 34, 196 S. 2, 212 UmwG.

17

§§ 319 Abs. 5, 327a Abs. 2 AktG; § 16 Abs. 2 UmwG.

18

§ 246a AktG.

19

S. das Zahlenwerk für den Zeitraum 2006–2022 bei Bayer/Hoffmann, AG 2023, R141.

20

Habersack/Stilz, ZGR 2010, 710, 714; Habersack, NZG 2023, 957.

21

Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, Praxis-Impulse zum Ablauf der Hauptversammlung, März 2024, unter dem Punkt “Zur Kodex-Anregung A.7” (abrufbar unter: Praxis-Impulse – dcgk – deutsch (zuletzt abgerufen am 18. 4. 2024).

22

Dazu etwa Mülbert in: Großkommentar AktG, Bd. 7/1, 5. Aufl., 2017, § 129 Rdn. 182 ff.

23

Schwarz, Neue Alte Welt, Börsen-Zeitung v. 1. 7. 2023, Nr. 124, S. 9.

24

Exemplarisch die für den Zusammenschluss Linde/Praxair gewählte Transaktionsstruktur; bezeichnend die Überlegungen von Strohn, ZHR 182 (2018), 114 zur Herleitung einer gleichwohl bestehenden Hauptversammlungskompetenz.

25

Dazu sogleich noch III. 3. bei Fn. 27.

26

BGH v. 19. 2. 2013 – II ZR 56/12, Rdn. 20 ff.

27

BVerfGE 58, 300.

28

Zurückgehend auf Lutter, NJW 1969, 1873, 1877.

29

BGHZ 153, 47.

30

Arbeitskreis Beschlussmängelrecht, AG 2008, 617.

31

§ A Abs. 3 des Gesetzesvorschlags.

32

§ B Abs. 2 des Gesetzesvorschlags.

33

§ B Abs. 3, 4 des Gesetzesvorschlags.

34

§ C Abs. 3 des Gesetzesvorschlags.

35

§ D Abs. 3 des Gesetzesvorschlags.

36

Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG), BGBl. 2021 I, S. 3436.

37

Z.B. Ebel/Wörner, NZG 2021, 963; Otte, NZG 2024, 657; differenzierter Guntermann, GmbHR 2024, 397; noch zu den §§ 714a ff. BGB-E Bachmann, NZG 2020, 612, 613; Otte, ZIP 2020, 1743, 1749.

38

Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (Fn. 9), S. 131, Zeile 6169.

39

§ 130 Abs. 2 S. 1 AktG. Dazu nur Mülbert (Fn. 22), § 130 Rdn. 109.

40

Noack/Servatius/Haas/Noack, GmbH-Gesetz, 23. Aufl., 2022, Anhang nach § 47 Rdn. 118 ff.

41

So der Bundesgerichtshof in st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss v. 4. 5. 2009 – II ZR 169/07, Rdn. 6 m.w.N.

42

Noack/Servatius/Haas/Noack (Fn. 40), Anhang nach § 47 Rdn. 181.

43

Begr. RegE BT-Drs. 19/27635, S. 10: “Hierauf aufbauend können die Gesellschafter für das neue Beschlussmängelrecht der Personenhandelsgesellschaften optieren und sich damit bei Bedarf Rechtssicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit eines Beschlusses verschaffen.”

44

So treffend für die GmbH Noack/Servatius/Haas/Noack (Fn. 40), Anhang nach § 47 Rdn. 124.

45

Gleichsinnig Habersack, NZG 2023, 957; Junker/Semrau/Lappe, Börsen-Zeitung 10.7.2023, Nr. 130, S. 10.

 
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