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ZLR 2019, 491
Nöhle 

Zucker & Fett, Minister(in) oder E-scooter?

Wir sind ja eine ganz schön mobile Gesellschaft. S- und U-Bahn sowie Busse an jeder Ecke; Rolltreppen überall, endlos-horizontale Laufbänder auf Flughäfen und bei den barrierefreien Wohnungsneubauten führt der Fahrstuhl von der Tiefgarage direkt in die Wohnung. Perfekt!

Allerdings gibt es da ein vollakademisches Problem: die letzten 500 Meter müssen wir laufen wie die Neandertaler – ein Skandal für unser hochindustrialisiertes Land. Ich komme mir irgendwie behindert vor. Muss das sein? Nein, muss nicht, und der Verkehrsminister hat dieses Problem nicht nur erkannt, sondern endlich auch gelöst: jetzt sind E-Scooter erlaubt. Via App schnappe ich mir aus der U-Bahn kommend einen dieser herrlich praktischen und unendlich smarten Leih-Elektro-Roller und komme völlig regungslos bis vor die Haustür, wo der Edelstahl-gebürstete Fahrstuhl schon lächelnd auf mich wartet. Toll.

Auch innerhalb der Wohnung ist alles geregelt. Ergonomisch gestylte Kücheneinrichtungen reduzieren die Schrittzahl während des Kochens dramatisch und der hüfthoch eingebaute Geschirrspüler vermindert bückende Bewegungen auf ein Minimum. Na also. Übrigens, am Wochenende wird's schönes Wetter und wir fahren 'raus aufs Land zu einem Bio-Hof, um Tiere zu streicheln. Da kaufen wir auch eine Rohmilch und einen Bio-Ziegenkäse – und das ganze per Fahrrad mit dem eingebauten Rückenwind, auch E-Bike genannt. Da braucht man gar nicht mehr zu treten! Ich bin begeistert – ehrlich jetzt.

Aber was ich der Lebensmittelindustrie schon immer sagen wollte: Verdammt noch mal, jetzt reduzieren Sie doch endlich mal den Zucker- und Fettgehalt Ihrer Lebensmittel, damit wir hier nicht alle so dick werden. Jeden Tag muss ich mir on- und offline, analog und digital anhören, dass ich Übergewicht habe. Ich habe davon schon einen Knoten im Bauch. Die Schuld hat doch die Lebensmittelindustrie. Reduzieren Sie die Inhaltsstoffe aber bitte heimlich und lassen Sie sich dabei um Himmels willen nicht mit einer Ministerin digital erwischen, das gibt Haue in den sozialen Medien, und zwar für den/die Minister(in) und für Sie – ich schwöre!

Betreffend eine eventuell drohende Zuckersteuer, die den E-Scooter-fahrenden Verbraucher zur finalen Einsicht bringen soll, habe ich übrigens eine viel bessere Idee: Eine Akku-Steuer! Alles, was einen Akku hat und uns bewegt, wird besteuert. Die Akkus malen wir noch in Ampelfarben bunt an; grün für 1 Stunde Reichweite, orange für 2 und rot ab 3 Stunden Reichweite. Denn wer sich drei Stunden lang nicht bewegt, bzw. sich durch ein akkubetriebenes Gefährt bewegen lässt, überschreitet eine rote Linie und das wird erstens rot kenntlich gemacht und zweitens bestraft. Das würde das Übel auch endlich bei der Wurzel packen. Das eingenommene Geld könnte man doch gut für Ernährungsaufklärung ausgeben. Habe ich Recht?

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Aber das ist ja noch nicht alles mit den warnenden Farben. Seitdem die Greta uns wegen des Klimas abgemahnt hat, stellen wir fest, dass ja auch Lebensmittel einen carbon foot print haben und Kühe den ganzen Tag nichts Besseres zu tun haben, als die Ozonschicht zu zerstören. Da ist z. B. die Butter. Die hat 82 % Fett. Das ist schon mal schlecht und deshalb bekommt sie ein rotes Etikett für den hohen Fettgehalt und auch noch ein weiteres rotes für den natürlich hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren. Aber die Butter wird aus Milch gemacht und für 1 kg Butter benötige ich 20 l Milch sowie unglücklicherweise eine Kuh und die produziert neben Milch unerwünschtermaßen auch noch Methan, welches die Ozon-Schicht zerstört. Das geht gar nicht und deshalb bekommt die Butter noch einen dritten, roten Klimabutton. Und wenn die Butter dann noch 800 km per LKW durch die Landschaft spazieren gefahren wird, bekommt sie noch einen roten food-miles-sticker.

War's das? Nein. Die Kuh ist keine Streichelkuh, sondern produziert Milch in einem 400er-Laufstall mit Melkroboter. Das nennt man korrekt “Industrielle Nutztierhaltung” und inkorrekt “Massentierhaltung”. Und dagegen gibt es ja bzw. sind in Planung jede Menge Kennzeichnungselemente: Staatliches Tierwohllabel, Tierwohlinitiative des Handels, Haltungskennzeichnung des Handels, Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes, EU-Bio, Bioland, Demeter usw. Aber die heutige Durchschnitts-Kuh und ihre Produkte bekommen von mir einen roten Punkt aus der Massentierhaltung, weil die Kuh keine Hörner mehr haben darf. Die Butter hat jetzt schon fünf rote Punkte. Beim Schwein ist es ähnlich, denn das produziert auch noch jede Menge Gülle und die landet bekanntlich “als Nitrat” im Grundwasser – weite Landstriche in Norddeutschland sind schon “rot”. Alle Schweinefleischprodukte also bitte in Rot.

Fertig jetzt? Nein. Der nächste Medienhype in Zusammenhang mit Lebensmitteln ist ja schon da: Plastik. Hier teilen wir die Welt in zwei Probleme ein: “Mikroplastik”, also in der Regel kleine Kunststoffteilchen, die durch physikalische und chemische Zersetzung von größeren Kunststoffteilen in die Umwelt und im Nanopartikelbereich auch in die Nahrungskette gelangen, sowie “Makroplastik”, also großflächige Kunststoffteile wie z. B. Verpackungsmaterial. Und da ist natürlich jede Menge Raum für eine farbliche Kennzeichnung. Klar, dass der Joghurtbecher, die Wasserflasche aus Kunststoff und auch mein Butterbecher einen roten Punkt bekommen. Sie laufen noch mit einer Plastiktüte im öffentlichen Raum herum? Ich kleb' Ihnen gleich einen roten Punkt auf die Stirn.

So kann man alle Lebensmittel und Gebrauchsgüter bunt anmalen (auf Neudeutsch auch “framing” genannt), und ich kann mich in meiner Lebensgestaltung danach richten und das vor allem auch öffentlich zeigen, denn das ist ja das wichtigste. Die E-Klasse vor der Garage? Total langweilig! Lebensmittel dienen doch nicht der Ernährung und dem Genuss, sondern in erster Linie zur öffentlichen Darstellung meines Lifestyles. Der Proll kauft rot, aber ich nur grün. Und deshalb fühle ich mich auch so gut. Der ständige Knoten in meinem Bauch, dass ich im Leben doch irgendZLR 2019 S. 491 (493) etwas falsch mache, ist wie weggeblasen und auch mein Übergewicht ficht mich nicht mehr so an.

Mit diesen ganzen labeln, Stickern und Ampeln fühle ich mich irgendwie so unbeschwert, so leicht . . ..

Lebensmittelchemiker Prof. Dr. Ulrich Nöhle, Braunschweig/Otterndorf

 
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