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BB 2021, I
Weitzmann 

Das Insolvenz-Paradox: Niedrige Zahl von Unternehmensinsolvenzen trotz anhaltender Wirtschaftskrise

Abbildung 1

Die Zahl der Insolvenzen gilt gemeinhin als ein Hinweis auf den Zustand der Wirtschaft. Nach den jüngsten Zahlen vom Statistischen Bundesamt gab es im Jahr 2020 mit 15.841 Unternehmensinsolvenzen die geringste Anzahl seit 1993. Nach über einem Jahr erklärter Corona-Pandemie, massiven öffentlich-rechtlichen Eingriffen, Lockdown etc. wird niemand die Ansicht vertreten wollen, dass sich die Unternehmen im besten Zustand seit 1993 befinden. Im Gegenteil! Die Zahlen belegen, dass eine niedrige Zahl von Unternehmensinsolvenzen nur in normalen Zeiten ein Indikator für den Zustand der Wirtschaft sein kann. Wir leben jedoch nicht in normalen Zeiten. Betrachtet man den Zeitraum seit 1900 und lässt den Zeitraum zwischen 1940 und 1950, in dem es praktisch keine Staatlichkeit gab, außen vor, wird man feststellen, dass das Jahr mit der niedrigsten Zahl an Insolvenzen bzw. Konkursen das Jahr 1923 war. In diesem Jahr der Hyperinflation wurden von 497 Konkursen nur 270 eröffnet. Das Insolvenzverfahren konnte die ordnungspolitische Aufgabe nicht erfüllen. Die Zahl der Insolvenzverfahren erfasst nur Unternehmen, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren beordnet wurden, nicht aber die Dunkelziffer von insolventen Unternehmen, die keinen Antrag stellen oder ohne rechtsstaatliches Verfahren “verschwinden”.

Marktwirtschaft als effektives und effizientes Regelungssystem

Die soziale Marktwirtschaft fußt auf Leistungswirtschaft und Transparenz. Der Staat ist verpflichtet, den ordnungspolitischen Rahmen zu setzen. “Marktpolizei, Wirtschaftsfreiheit und Leistungswettbewerb sind die maßgeblichen Oberbegriffe. Sie zeigen sich als Grundbedingungen: stabiles Geld, Leistungsvergleich, Privateigentum, auch an Produktionsmitteln, Vertragsfreiheit, volle Haftung, d. h., dass der Chance das Risiko gegenübersteht, und eine weitest mögliche Verlässlichkeit der politischen Daten. Die Wirtschaftsteilnehmer müssen mit einer gleichbleibenden wirtschaftspolitischen Grundausrichtung rechnen können. Dazu gehört, dass wir den Staat nicht erst aus dem Bereich der Wirtschaft hinausweisen, um ihn dann zu den Hintertüren des Interventionismus, Subventionismus, Protektionismus wieder reinzuholen, sondern dass wir einen starken und unabhängigen Staat von Anfang an die grundlegende Aufgabe der Marktpolizei, der Sicherung der Wirtschaftsfreiheit und ihrer Leistungskonkurrenz zuordnen” (Alfred Herrhausen, Denken, Ordnen, Gestalten, 1997, S. 205, 206). Diese Aufgabe muss er auch wahrnehmen. “Paradoxerweise wird aber der heutige Staat von vielen Menschen als ein Wesen angesehen, dem fast unbeschränkte Aufgaben übertragen werden könnten, als ob er der unabhängige und wohlwollende Vater seiner Bürger wäre! – Und das ist, obwohl seine Autorität in anderer Hinsicht im Schwinden begriffen ist – ein Zeichen für die Punktualität des heutigen Denkens” (Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2004, S. 330).

Die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber Zentralverwaltungssystemen baut darauf auf, dass ein transparenter, diskriminierungsfreier Markt schneller und besser in der Lage ist, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Bei Anwendung dieser Prinzipien bildet sich schnell ein Marktgleichgewicht, ein Pareto Optimum, ein bestmöglicher Zustand.

Unwucht staatlicher Eingriffe

Staatliche Eingriffe haben auf unterschiedlichen Ebenen dazu geführt, dass die Vorgaben eines effizienten Marktes eingeschränkt sind. Im Bereich der Finanzierung führt das QE-Programm der EZB dazu, dass ein ordentlicher Markt-/Risikozins von Fremdkapital nicht mehr gebildet werden kann. Eine marktgerechte Bepreisung von Chancen und Risiken wird so behindert. Zombies, nach OECD-Definition Unternehmen, die in den letzten drei Jahren nicht mehr in der Lage waren, ihren Zinsdienst zu erwirtschaften, verschlingen Ressourcen und wirken als Erneuerungsbremse. Unternehmen, die nicht mehr ertragreich arbeiten, erwirtschaften Verluste. Wenn das Eigenkapital aufgezehrt ist, erfolgt das Weiterwirtschaften zu Lasten der anderen Stakeholder, der Vertragspartner, der Arbeitnehmer, der Sozialkassen, des Fiskus etc. Diese wissen von dem Risiko nichts und wollen es in der Regel auch nicht tragen. Die ordnungspolitischen Eingriffe in die Marktfunktionen durch Lockdown etc. stören und spannen nicht nur die Marktfunktionen an, sondern auch die Lieferketten. Den Unternehmen, die bisher in dem schwierigen Marktumfeld liquiditäts- und ertragsmäßig überleben konnten, drohen weitere Belastungen durch Zahlungsausfälle und verspätete Zahlungen. Um auf den richtigen Weg zu kommen, muss man richtige, manchmal auch harte Entscheidungen treffen. Die Verteilungsmasse muss verdient werden, will man nicht auf Kosten anderer leben.

Jeder Obstverkäufer auf dem Markt nimmt die faulen Kirschen aus der Schütte, um zu verhindern, dass die anderen angesteckt werden. Gleichermaßen ist es im allgemeinen Infektionsgeschehen anerkannt, die Kranken in Quarantäne zu nehmen, um eine Ansteckung der Gesunden zu verhindern. Dieses erfolgt jedoch auf volkswirtschaftlicher Ebene nicht. Wenn der Markt nicht geöffnet ist, Transparenz, Fortschritt, Handlung, Haftung und Risiko nicht adäquat zugeordnet sind, stagniert die Wirtschaft.

Wenn keine Insolvenzanträge gestellt werden, kann das Insolvenzverfahren seine Ziele der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung, der Sanierung ertragsfähiger Unternehmenskerne sowie der Herausnahme nicht ertragsfähiger Einheiten aus dem Markt nicht erfüllen. Es droht ein nachhaltiger Effektivitäts- und Effizienzverlust.

Jörn Weitzmann, RA/FAInsR/FAStR, ist Partner der Kanzlei Kilger & Fülleborn. Seine Tätigkeitsschwerpunkte bilden u. a. die Sanierungs- und Restrukturierungsberatung, CRO Management, Insolvenzverwaltung, Betriebsfortführung und die Vertretung von Gläubigern, auch in Gläubigerausschüssen. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung im Deutschen Anwaltverein (DAV).

 
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