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BB 2023, I
Stahlschmidt 

Eine Einkommensteuertarifreform tut not !

Abbildung 1

Tarifreform – der politische Wille wird fehlen!

Soweit ersichtlich, liegt die letzte strukturelle Einkommensteuerreform fast 14 Jahre zurück. Das Grundgerüst der geltenden Einkommensteuertariffunktion ist seit dieser Zeit kaum verändert worden. In den letzten Jahren wurde zwar immer mal wieder über die Notwendigkeit des Abbaus der Überbesteuerung bzw. der kalten Progression und des sog. Mittelstandsbauchs diskutiert. Aber klar ist auch, der Staat kann nur bedingt auf Einnahmen verzichten. Da die Steuerpflichtigen in diesem Tarifbereich erhebliches Gewicht haben, ist der Staat bedacht, die Entlastungsmaßnahmen möglichst gering ausfallen zu lassen.

Dies wird bei dem Blick auf die Ausgangslage, den aktuell in der vergangenen Woche eingebrachten Bundeshaushalt von Finanzminister Christian Lindner deutlich. Der Bund plant für das Jahr 2024 in Höhe von 445,7 Mrd. Euro. Auf Investitionen entfallen ca. 54,238 Mrd. Euro, auf konsumtive Ausgaben ca. 391,45 Mrd. Euro. Von diesen wiederum sind ca. 171,674 Mrd. Euro für Arbeit und Soziales vorgesehen, mithin 38,52 %. Auch muss der Bund wieder mit Zinsausgaben kalkulieren, für 2024 immerhin ca. 37 Mrd. Euro. Damit ist ein Großteil der geplanten Ausgaben bereits durch gesetzliche Regelungen bestimmt. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Handlungsspielraum des Staates immer enger wird. Diese Lage wird durch einen Anstieg der Sozialausgaben verschärft, wie zum Beispiel die Erhöhung des Bürgergeldes um 12 % und die Diskussion um die Kindergrundsicherung zeigen. Beide Positionen strahlen im Übrigen direkt in das Steuerrecht bzw. in den Tarif hinein. Klar ist, wird das Bürgergeld in der vorgesehenen Form erhöht, muss auch der Grundfreibetrag steigen, weil allein die Struktur des Bürgergeldes – Zahlung der Wohnkosten in Höhe der tatsächlichen Warmmiete – zu einer Schieflage führt. Ob und welche Implikationen die geplante Kindergrundsicherung auf Kinderfreibeträge haben wird, bleibt abzuwarten.

Handlungsempfehlungen zur Gestaltung des Einkommensteuertarifs wurden auch im BB publiziert. So haben sich Bomsdorf und Dziadkowski mit Vorschlägen geäußert (bereits BB 2023, 1431 ff., BB 2022, 1303 ff., 2583 ff., 1882 ff., 1563 ff., BB 2021, 2270 ff., BB 2020, 2915 ff.). Alle Vorschläge zielen darauf ab, den sog. Mittelstandsbauch des Tarifs zu beseitigen und den Spitzensteuersatz “später” beginnen zu lassen. Auch der Vorschlag des Bundes der Steuerzahler zum Thema umfassende Einkommensteuerreform geht in dieselbe Richtung. Der Spitzensteuersatz soll später greifen, ab 100 000 Euro (derzeit ab 62 180 Euro). Ferner sollen zwei weitere Tarifstufen ab 300 000 Euro 45 % und ab 1 000 000 Euro 48 % eingeführt werden. Der Mittelstandsbauch soll dadurch abgeflacht werden, dass die erste Progressionszone des Tarifs bei 45 000 Euro zu 35 % endet, statt derzeit 16 000 Euro zu 24 %. Den Gesamteffekt gibt der Steuerzahlerbund mit ca. 26 Mrd. Euro an.

Dass eine Reform nottut, zeigt ein Blick in die Historie. 1958 wurde der Einkommensteuertarif in seiner heutigen Form nach einer mehrstufigen Tarifformel eingeführt. Von Beginn an war er progressiv gestaltet. In den 1980er und 90er Jahren wurde der Tarifverlauf abgeflacht, um den sog. Mittelstandsbauch, den steil ansteigenden Grenzsteuersatz im unteren und mittleren Einkommensbereich abzubauen. Der Eingangssteuersatz mit mehr als 20 % hatte bis in die Mitte der 1990er Jahre Bestand. Mittlerweile ist er auf 14 % abgesenkt worden. Der Spitzensteuersatz erreichte 1995 mit 57 % seinen Höchststand (Solidaritätszuschlag inkludiert). In mehreren Schritten senkte der Gesetzgeber den Spitzensteuersatz auf 44,3 % ab, die Reichensteuer ausgeklammert. Obgleich sich die Tarifgrenzen erhöhten, blieb die Steigung des jeweiligen Tarifverlaufs unverändert. Diese sehr steil ausfallende Steigung zwischen Grundfreibetrag und Erreichen des Spitzensteuersatzes, d. h. bezogen auf die Realeinkommen immer früher und stärker greifende Progression, dient im Grunde der Gegenfinanzierung der Senkung der Steuersätze. Die Relation zwischen dem Durchschnittseinkommen und dem Einsetzen des Spitzensteuersatzes ist im Zeitlauf immer geringer geworden, was nur auf den steilen Verlauf zwischen Grundfreibetrag und Spitzensteuersatz zurückzuführen ist. 1960 musste das 18-fache des durchschnittlichen Arbeitslohns erzielt werden, um in die Zone des Spitzensteuersatzes zu kommen. Heute reicht das 1,5-fache des durchschnittlichen Arbeitslohnes aus!

Zwischenzeitlich ist das Problem (mal wieder) in der aktuellen Politik angekommen. So stellte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann jüngst fest, dass “die Mittelschicht in Deutschland den Spitzensteuersatz” zahlt. Eine Reform der Einkommensteuer müsste her, sonst “gerät in Deutschland etwas ins Wanken”. CDU-Chef Friedrich Merz erklärte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: “Wir müssen die Belastungskurve abflachen, denn Leistung muss sich lohnen.” Ob der Steuersatz bei 42 oder 45 % liege, sei nicht entscheidend. Die Kritik kam prompt. Bundesfinanzminister Christian Lindner lehnt eine Reform des Spitzensteuersatzes ab. Zustimmung kam dagegen von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert.

Prof. Dr. iur. Michael Stahlschmidt lehrt an der FHDW Paderborn Steuerrecht, Rechnungswesen, Controlling und Compliance und ist Ressortleiter Steuerrecht des Betriebs-Berater und Chefredakteur Der Steuerberater.

 
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