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BB 2022, I
Wegner 

Zeitenwende im Kartellrecht: Einführung einer missbrauchsunabhängigen Entflechtungsbefugnis des Bundeskartellamts durch die 11. GWB-Novelle?

Abbildung 1

Der Gesetzesentwurf schafft Rechtsunsicherheit und wirft Fragen zur verfassungs- und europarechtlichen Konformität auf.

Nach der Verknappung von Rohstoffen aller Art wurde im Sommer vielfach nach dem Kartellamt gerufen: Dieses möge gegen die daraus folgenden Preissteigerungen auf verschiedenen Märkten schnellstens einschreiten. Das Bundeskartellamt wies seinerzeit – zu Recht – darauf hin, dass sein Eingreifen nicht nur ein Marktversagen erfordere, sondern den Nachweis eines Kartellverstoßes. Entsprechende Ermittlungen habe man aufgenommen. Nun hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz einen Entwurf für die 11. GWB-Novelle vorgelegt, der dem Amt u. a. die Anordnung weitreichender Maßnahmen bis hin zur Entflechtung ermöglichen soll, der den Nachweis eines Verstoßes gegen das Kartellrecht nicht mehr erfordert. Vielmehr soll es zukünftig ausreichen, dass das Bundeskartellamt nach Durchführung einer Sektoruntersuchung eine “erhebliche, andauernde oder wiederholte Störung des Wettbewerbs” auf mindestens einem Markt feststellt. Dann kann es “alle (. . .) erforderlichen Abhilfemaßnahmen” ergreifen, die eine solche Störung beseitigen oder verringern.

Möglich sollen dabei verhaltensorientierte Maßnahmen, wie z. B. die Anordnung der Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen und Netzen, der Belieferung anderer Unternehmen, der Einräumung von Nutzungsrechten an geistigem Eigentum oder die organisatorische Trennung von Geschäftsbereichen sein. Wenn die Störung des Wettbewerbs durch die Entflechtung zumindest erheblich verringert wird und verhaltensorientierte Maßnahmen nicht gleich effektiv oder für die Unternehmen belastender wären, soll als Ultima Ratio auch das schärfste Schwert, nämlich die Entflechtung künftig möglich sein.

Der Begriff der Störung des Wettbewerbs wird ebenso wenig präzise definiert wie die Erheblichkeit derselben. Zu den zu berücksichtigenden Kriterien gehören “alte Bekannte”, insbesondere die Marktkonzentration, Anzahl, Größe und Finanzkraft der auf dem Markt tätigen Unternehmen, Verflechtungen und Marktzutrittsschranken. Hinzu kommen “Marktergebnisse und Verhaltensweisen, die auf wettbewerblich nicht hinreichend begrenzte Verhaltensspielräume (. . .) schließen lassen”. Die Betrachtung der Marktergebnisse soll sich dabei nicht nur auf (hohe) Preise und (knappe) Mengen beziehen. Ausgangspunkt für die Annahme einer Störung können vielmehr auch sinkende Qualität, mangelnde Auswahl und eine geringe Innovationsfähigkeit(!) sein. Hieran kann abgelesen werden, dass sich die Eingriffsbefugnis nicht auf einzelne Extremfälle bezieht, sondern letztendlich in einer Vielzahl von Märkten angewendet werden könnte. Dazu muss weder eine marktbeherrschende Stellung (sei es ein Monopol oder ein Oligopol) noch ein Missbrauch von Marktmacht nachgewiesen werden noch (alternativ) ein Kartellverstoß. Nach dem Design der geplanten Befugnis kann daher prinzipiell jedes rechtmäßig handelnde Unternehmen auf einem so gestörten Markt Adressat einer Maßnahme werden.

Selbst die behördliche Genehmigung einer Übernahme im Rahmen der Fusionskontrolle schafft keine Sicherheit mehr, dass eine rechtmäßig vollzogene Transaktion als solche Bestand hat, also Eingriffe der Kartellbehörden nur dann erfolgen können, wenn sie an rechtswidrige Verhaltensweisen anknüpfen, die über den Vollzug der freigegebenen Übernahme hinausgehen: Für freigegebene Zusammenschlüsse soll es lediglich eine Karenzphase von fünf Jahren geben, in der keine Entflechtungsmaßnahmen angeordnet werden dürfen.

So verlockend es aus Verbrauchersicht klingen mag, wenn (vermeintliche) Preissenkungsmaßnahmen durch das Bundeskartellamt zukünftig leichter angeordnet werden könnten, so sehr stellt der Vorschlag einen Bruch mit dem tradierten (Selbst-)Verständnis dar, dass Befugnisse der Kartellbehörden nicht schon an das Halten einer marktbeherrschenden Stellung anknüpfen, sondern deren missbräuchliche Ausnutzung (oder eben einen Kartellverstoß) voraussetzen. Unternehmen können dahingehende Anordnungen der Kartellbehörden nicht mehr dadurch abwenden, dass sie sich rechtstreu verhalten. Der Gesetzesentwurf senkt die Schwelle für einen behördlichen Eingriff in Rechte der Unternehmen deutlich. Er schafft wegen der Unschärfe der Voraussetzungen eines Eingriffs und der nur noch durch die Verhältnismäßigkeit begrenzten Maßnahmen auf der Rechtsfolgenseite erhebliche Rechtsunsicherheit. Er wirft – wenn nicht schon in der Ermächtigungsgrundlage, dann jedenfalls in der konkreten Anwendung – damit auch verfassungsrechtliche Fragestellungen auf. Soweit das Amt insoweit die Befugnis erhält, auch von der Europäischen Kommission freigegebene Zusammenschlüsse zu entflechten, stellt sich auch die Frage, ob der Vorschlag europarechtskonform ist.

Das in der Begründung formulierte Ziel, das Instrument der Sektoruntersuchung schlagkräftiger auszugestalten, kann das Erfordernis des neuen Instrumentariums nicht stützen: Die “Sektoruntersuchung an sich” ist schließlich kein schützenswerter Selbstzweck. Sie erlaubt dem Bundeskartellamt zudem bereits jetzt, im Nachgang Verfahren einzuleiten, um festgestellte rechtswidrige Verhaltensweisen abzustellen. Der Entwurf senkt letztendlich lediglich die Voraussetzungen dafür, dass das Kartellamt unabhängig von einem Rechtsverstoß regulierend in Märkte eingreifen kann. Ähnlichen Bestrebungen auf europäischer Ebene – die Europäische Kommission plante vor zwei Jahren, mit dem sog. “New Competition Tool”, ihre Eingriffsbefugnisse auszuweiten – wurde daher auch schon mit erheblicher Skepsis begegnet und scheinen vorerst auf Eis gelegt zu sein. Diese Bedenken sollten auch bei der Diskussion um die 11. GWB-Novelle ernst genommen werden.

Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institut), RAin, Leiterin der Kartellrechtspraxis bei Luther in Düsseldorf. Ihre Beratungstätigkeit umfasst insbesondere das Vertriebskartellrecht, Kartellschadensersatz, Compliance, Bußgeldverfahren, die Fusionskontrolle, Joint Ventures sowie Missbrauch von Marktmacht. Sie hat insbesondere umfangreiche Erfahrungen mit Sachverhalten aus der Automobilindustrie, Logistik, der Baustoffindustrie sowie der Chemikaliendistribution.

 
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