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BB 2020, I
Sick 

#ZukunftMitbestimmung – Erosion der Mitbestimmung gefährdet Sozialpartnerschaft

Abbildung 1

Kooperation und Sozialpartnerschaft bilden einen Grundpfeiler des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft. Deutschland ist in der Vergangenheit besser durch Krisen hindurchgekommen als viele andere Länder. Mitbestimmte Unternehmen haben beispielsweise die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 erfolgreicher als nicht mitbestimmte Unternehmen bewältigt (Rapp/Wolff, Mitbestimmungsreport Nr. 52, 2019). Gerade weil es einerseits die Corona-Krise und andererseits die Herausforderungen von Transformation, Digitalisierung und Globalisierung zu bewältigen gilt, ist für die Zukunft und den Zusammenhalt des Landes eine gelebte Sozialpartnerschaft in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis mehr denn je gefragt. Dazu gehört Tarifautonomie sowie betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung, die an den strategischen Entscheidungen ansetzt. Nicht in dieses Bild passt, dass Unternehmen wie der DAX-Primus SAP durch die Umwandlung in eine SE die Mitbestimmung schwächen und die Sitzgarantie für gewählte Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat beseitigen wollen. Dagegen hat das BAG kürzlich erfreulich deutlich Position bezogen, die Frage aber dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschluss v. 18.8.2020 – 1 ABR 43/18 (A)). Nicht in dieses Bild der Sozialpartnerschaft passen außerdem zahlreiche Unternehmen, die die Unternehmensmitbestimmung komplett aushebeln. Das DAX-Unternehmen Vonovia mit seinen mehr als 8000 inländischen Beschäftigten nutzt die Rechtsform der SE, um den Status der Mitbestimmungsfreiheit zum Zeitpunkt der SE-Gründung für alle Ewigkeit “einzufrieren”. Auch das Skandalunternehmen Wirecard nutzte gesetzliche Lücken so aus, dass die zusätzliche Kontrolle durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat fehlte. Der Fleischkonzern Tönnies, bekannt als Corona-Hotspot und wegen unwürdiger Arbeitsbedingungen, hebelt die kontrollierende Mitbestimmung im Aufsichtsrat aus, indem er in Deutschland in einer Konstruktion mit ausländischer Rechtsform firmiert (APS & Co. KG).

Ist die Sozialpartnerschaft in mitbestimmten Aufsichtsräten in Frage gestellt? Nein, das ist nicht die Regel. Die Erosion der Mitbestimmung bedroht jedoch die Sozialpartnerschaft. Allein in Unternehmen mit mehr als 2000 inländischen Arbeitnehmern sind mehr als 2,1 Mio. Beschäftigte von derlei Umgehungsstrategien betroffen. Ein Hauptgrund: Europäisches Recht hat neue Schlupflöcher geschaffen. Hatten 2002 noch 767 Unternehmen einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, so waren es 2018 nur noch 638. Demgegenüber fehlt bei 307 bzw. jedem dritten Unternehmen mit mehr als 2000 inländischen Beschäftigten der mitbestimmte Aufsichtsrat. Noch gravierender ist der Befund zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE): Nur jede fünfte SE mit entsprechender Arbeitnehmerzahl verfügt über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat (vgl. Sick, Mitbestimmungsreport Nr. 58 vom 1.5.2020, S. 13 ff.).

Ohne Mitsprache von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat fehlt aber nicht nur ein wesentliches Element der Sozialpartnerschaft, sondern auch ein wichtiges Mittel der Unternehmenskontrolle. Mitbestimmung bildet ein Gegengewicht zu kurzfristigen Investoreninteressen. Sie legt den Fokus auf den langfristigen Bestand des Unternehmens und den Erhalt der Arbeitsplätze. Mit gewählten Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat wird die Diversität größer, die Informationslage besser und die Manipulationsmasse kleiner. Der Kapitalmarkt hingegen ist allen Warnsignalen zum Trotz beim trügerischen Hype um Wirecard seiner angeblichen Kontrollfunktion nicht gerecht geworden.

Wenn im Zuge des Wirecard-Skandals nun Aufsichtsrat und Prüfungsausschuss aufgewertet werden, ist das notwendig. Wer aber angesichts jüngster Vorfälle bei Wirecard und Tönnies für mehr kritische Geister, Diversität und Nachhaltigkeit im Aufsichtsrat eintritt, sollte zu allererst die Lücken der Mitbestimmung schließen. Anders als der investorenlastige Deutsche Corporate Governance Kodex beherzigt dies der neue Public Corporate Governance Kodex des Bundes, indem er der Anteilseignerversammlung empfiehlt, Maßnahmen zu unterlassen, mit denen die Unternehmensmitbestimmung eingeschränkt oder verhindert wird (Ziff. 3. 3).

Der Gesetzgeber muss bestehende Gesetzeslücken schließen:

– Der Fall Wirecard: Die Drittelbeteiligungslücke ist zu schließen, indem wie im Mitbestimmungsgesetz Inlandsbeschäftigte stets konzernweit gezählt werden.

– Der Fall Tönnies: Die Mitbestimmung ist europarechtskonform auf ausländische Rechtsformen zu erstrecken.

– Der Fall Vonovia: Das dauerhafte “Einfrieren” einer SE auf einem Niveau ohne oder mit geringer Mitbestimmung muss verhindert werden. Wächst die Beschäftigtenzahl über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, muss es die Chance geben, dass Mitbestimmungsrechte entsprechend wachsen. In Europa fehlt eine Rahmenrichtlinie mit Mindeststandards.

– Unternehmen, die Mitbestimmungsrechte rechtswidrig nicht anwenden, müssen effektiv sanktioniert werden.

Außerdem sollte eine gesetzliche Weiterentwicklung grundlegende Entscheidungen wie M&A, Sitzverlagerung, Rechtsformwechsel, Betriebsschließung oder Massenentlassungen stets der Zustimmung des mitbestimmten Aufsichtsrats unterwerfen und nicht ohne die Stimmen der Arbeitnehmer gefällt werden können. Denn eine Ergänzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls ist überall dort zentral, wo strategische Entscheidungen fallen, die die Zukunft von Belegschaften und ganzen Regionen determinieren. Eine solche Reform der Mitbestimmung hilft, die Sozialpartnerschaft in Unternehmen zu bewahren und sich für Transformation und Krise zu rüsten.

Dr. Sebastian Sick, LL.M.Eur., RA, ist Referatsleiter Wirtschaftsrecht im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung. Er berät Arbeitnehmervertreter zu Aufsichtsratspraxis und Corporate Governance und hat selbst langjährige Erfahrung als Mitglied von Aufsichtsräten sowie bei Verhandlungen zur Gründung Europäischer Aktiengesellschaften.

 
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