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EWS 2025, I
Sattler 

Kartellschadensersatz: Noch lange nicht das letzte Wort

Abbildung 1

Der private Prozess wird zum Politikum

Mit Urteil vom 28. 1. 2025 – Rs. C-253/23 hat der EuGH der Zulässigkeit des Sammelklagen-Inkassos im Kartellschadensersatzrecht den Weg bereitet. Das Urteil steht in einer Reihe judikativer und legislativer Entwicklungen, die sich in jüngerer Zeit in diesem Rechtsgebiet überschlagen. Ein Abflauen oder Verstetigen ist nicht zu erwarten. Die Schlagzahl resultiert daraus, dass das Kartellschadensersatzrecht drei Postulaten gerecht werden soll, deren Grenzen unklar und die in letzter Konsequenz wohl nicht vereinbar sind:

Erstens: Die überragende Komplexität des Wettbewerbsrechts und seiner Sachverhalte erfordere eine rechtliche Sonderbehandlung, in materieller und/oder prozessualer Hinsicht. Mit u. a. dieser Begründung haben deutsche Instanzgerichte die Wirksamkeit der Abtretung von Kartellschadensersatzforderungen an Inkassodienstleister verneint, was auch der Anlass für den Vorlagebeschluss des LG Dortmund war (13. 3. 2023 – 8 O 7/20, NZKart 2023, 229), der letztlich zur Entscheidung des EuGH führte.

Wie weit diese Sonderbehandlung gehen soll, ist unklar und dürfte maßgeblich davon abhängen, wie es denn tatsächlich um die Komplexität bestellt ist. Ob das Wettbewerbsrecht so viel komplexer ist als z. B. Streitigkeiten im Großanlagenbau mit ihren Verzugsanalysen und Schadensaufstellungen, erscheint zumindest zweifelhaft. Wirklich überzeugend ist das Postulat daher nur bei “kleineren” Schadensbeträgen, wenn Komplexität und Ertrag außer Verhältnis stehen.

Zweitens: Dem Wettbewerbsrecht komme eine so überragende Bedeutung zu, dass seine effektive Umsetzung Vorrang vor anderen rechtlichen Erwägungen habe.

Nun wird niemand (außer vielleicht glühenden Minarchisten) die Bedeutung des Wettbewerbsrechts leugnen wollen. Unklar ist aber, wie weit sein Vorrang gehen soll und ob es nicht vielleicht doch Rechtsinstitute oder Interessen gibt, die höher einzuordnen sind. § 1059 ZPO und die Attraktivität des Schiedsstandorts Deutschland sind es schon einmal nicht – insofern hat sich der BGH festgelegt (27. 9. 2022 – KZB 75/21, NJW 2023, 1517).

Drittens: Die mit dem Wettbewerbsrecht verbundenen öffentlichen Interessen sollen (auch) vermittels privatrechtlicher Verfolgung von Kartellschadensersatzansprüchen durchgesetzt werden.

Das ist insofern ein Novum, als das Schadensersatzrecht in Deutschland ansonsten die Durchsetzung öffentlicher Interessen als Nebenprodukt, allenfalls als Sekundärziel erachtet (vgl. Prütting/Kniepert, ZfPW 2017, 458, 465). In vielen “Common Law”-Jurisdiktionen, vor allem in US-Bundesstaaten, sieht man das anders, gestützt unter anderem auf die ökonomische Analyse des Rechts. So betrachtet ist der Kartellschadensersatz die Durchsetzung europäischer (und deutscher) Normen mit US-amerikanischen Mitteln.

Das muss nicht falsch, kann sogar genau richtig sein. Es entbehrte auch nicht der Ironie, wollte man gerade bei Kartellfällen moderne Erkenntnisse aus der ökonomischen Analyse des Rechts ignorieren und allein die Pandekten als Erkenntnisquelle zulassen.

Freilich wird auf diesem Weg der Privatprozess zum Politikum. Jedwede prozessuale oder materiell-rechtliche Erschwernis, die sich dem Kartellgeschädigten in den Weg stellt, kann nun nicht mehr allein unter gewohnten Blickwinkeln wie Waffengleichheit, Rechtssicherheit oder materieller Gerechtigkeit betrachtet werden, sondern erhält eine ordnungspolitische, ja sogar staatstragende Konnotation.

Damit werden Lösungen salonfähig, die in anderen Rechtsbereichen jedenfalls in ihrer Kumulation undenkbar wären. Der Beklagte hat dem Kläger hilfreiche Dokumentation? Herausgabeanspruch, § 33g Abs.  1 GWB. Streitverkündungen der Beklagten erhöhen das Kostenrisiko für die Kläger? Einschränkung der Kostenerstattung, § 89a Abs.  3 GWB (obwohl bei stand-alone-Klagen nicht einmal feststeht, ob überhaupt ein Kartellverstoß vorliegt). Der Schadensnachweis ist zu schwierig? Gesetzliche Vermutung, § 33a Abs. 2 GWB.

Damit wird es nicht enden. Wer den Weg konsequent zu Ende gehen will, muss auch das schadensrechtliche Bereicherungsverbot beerdigen, etwa durch eine gesetzliche Schadenshöhenvermutung (vgl. Klumpe, WuW 2024, 12, 18). Spricht nicht auch eine überlange Verfahrensdauer gegen die effektive Umsetzung (“justice delayed is justice denied”)? Also: zwingende Entscheidung nach zwei Jahren, notfalls eben über non liquet? Und mit welchem Recht eigentlich untersagt der Gesetzgeber den Klägervertretern Erfolgshonorare und die quota litis, wenn man doch jenseits des Atlantiks sehen kann, welchen Enthusiasmus bei der Rechtsverfolgung diese Vergütungsmodelle auslösen?

Was heute nach reductio ad absurdum klingt, mag morgen diskutiert und übermorgen implementiert sein. Das muss alles nicht falsch sein. Klar ist aber: Solange man an den drei genannten Postulaten festhält – also: ein hochkomplexes Recht, welches unbedingt durchgesetzt werden muss, und zwar mit den Mitteln des Privatrechts, dabei aber seine Sonderbehandlung erfahren soll –, solange ist die Rechtsfortbildung ein heikler Balanceakt.

In den USA kann man insofern zumindest auf über zweihundert Jahre Judikatur zurückgreifen. Diesseits des Atlantiks geschieht dies nun im Schnelldurchlauf, befeuert durch moderne Kommunikations- und Finanzierungsmöglichkeiten und verkompliziert durch Fragen des Internationalen Privatrechts sowie der Kollision von nationalem und europäischem Recht. Die Schlagzahl der Rechtsfortbildung im Kartellschadensersatzrecht wird also nicht abnehmen. Sie wird sich erhöhen.

Dr. Maximilian Sattler, Rechtsanwalt, Frankfurt a. M.

 
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